Wahldebakel trifft FDP-Bundestagsabgeordnete und Mitarbeiter. Auch die Hamburger Sylvia Canel und Burkhardt Müller-Sönksen orientieren sich neu.
Berlin/Hamburg. Im vierten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses im Berliner Regierungsviertel ist nichts los. Die Teeküche ist menschenleer, im Kopierraum durchbricht nur das monotone Rauschen der Geräte die Stille, die Türen der Büros sind geschlossen. Der Trakt der FDP-Bundestagsfraktion mutet an wie ein verlassenes Schiff.
Es ist später Nachmittag, als Sylvia Canel ihr Büro betritt. Eben hat sie einen ihrer letzten Termine in der Hauptstadt hinter sich gebracht und eine Hamburger Schulklasse durch den Reichstag geführt. „Wenn die Schüler sehen, wie hier Politik gemacht wird, gibt es künftig vielleicht ein paar Nichtwähler weniger“, sagt sie.
Doch damit ist es jetzt vorbei. Spätestens zum 22. Oktober, wenn der neue Bundestag zusammentritt, muss Canel wie die anderen FDP-Abgeordneten ihr Büro räumen – und die Liberalen Abschied nehmen. Am Sonntag ist die Partei an der Fünfprozenthürde gescheitert und sitzt zum ersten Mal seit 1949 nicht mehr im Bundestag. Eine emotionale Achterbahnfahrt für alle 93 Abgeordneten, die 2009 mit dem FDP-Rekordergebnis von 14,6 Prozent ins Parlament gespült wurden. Aus Hamburg dabei: Sylvia Canel und Burkhardt Müller-Sönksen, für den es schon die zweite Legislaturperiode war.
„Das war großartig damals“, erinnert sich Canel. „Ich bin quasi vom Klassenzimmer in den Bundestag gekommen.“ Heute sitzt die Lehrerin und Abgeordnete in ihrem Büro mit der Nummer 4514 zwischen vielen braunen Umzugskartons und noch mehr Erinnerungen. Die 55-Jährige hat gern Politik gemacht, sagt sie, vor allem im Bildungsausschuss habe es viele Erfolge gegeben. „Es war ein tolles Gefühl, wenn Ideen verwirklicht wurden.“ Canel war vor allem Bildungspolitikerin – und sie hadert nicht damit, dass jetzt Schluss ist. „Ich gucke auf vier bewegte und erfolgreiche Jahre zurück“, sagt sie. „Und ich begreife diese Jahre auch als Geschenk.“
Mit dem schlechten Abschneiden ihrer Partei hat sie jedoch nicht gerechnet. Sicher, sie wusste, es würde eng werden – aber unter fünf Prozent? In Schockstarre standen am Wahlabend auch die vielem FDP-Mitarbeiter. Das Ausscheiden der Partei aus dem Bundestag hat die gleichen Auswirkungen wie die Pleite eines mittelständischen Unternehmens: Rund 600 Angestellte der Liberalen verlieren ihren Job, Referenten, wissenschaftliche Mitarbeiter, Sekretärinnen. Viele haben Kinder und Familien – und stehen jetzt vor dem Nichts. Canel hat zwei Angestellte in Berlin und einen in Hamburg, die sie bei ihrer Bundestags-Tätigkeit unterstützt haben. „Es ist oberste Priorität, jetzt unsere Leute unterzubringen“, sagt sie. Es würden alle Hebel in Bewegung gesetzt – mit eigenen Kontakten und auch den Jobcentern. Manche versuchen, nun bei anderen Abgeordneten unterzukommen.
Und Canel selbst? Nach ihrem Studium an der Hamburger Universität arbeitete sie selbstständig mit Lehraufträgen an verschiedenen Einrichtungen. Sie will jetzt wieder im Lehrbereich arbeiten, einige Schulen hätten schon angefragt. „Ich habe aber auch viele eigene Ideen“, sagt sie. Immerhin: Canel konnte sich vorbereiten. Sie hat schon im Dezember 2012 entschieden, bei dieser Bundestagswahl nicht wieder anzutreten.
Bei der FDP will sie aber aktiv bleiben, immerhin ist sie ja gleichzeitig Vorsitzende des Hamburger Landesverbandes. Auch im Bund will sie sich weiter einbringen. „Ich will daran mitarbeiten, dass wir uns so aufstellen, dass wir in vier Jahren wieder in den Bundestag einziehen können“, sagt sie mit fester Stimme. Im Büro sortiert sie jetzt aber erst einmal aus. Manches kommt in den Müll, manches ins FDP-Archiv, anderes mit nach Hamburg. Eine Wohnung hatte Canel in Berlin nicht, sondern sich in den Parlamentswochen ein Zimmer gemietet und aus dem Koffer gelebt. Hamburg ist ihr Mittelpunkt geblieben.
Vor finanziellen Sorgen stehen die scheidenden Parlamentarier aber vorerst nicht. Für ihre vier Jahre im Bundestag bekommt Sylvia Canel ab 67 Jahren 825,20 Euro pro Monat als Pension, Außerdem gibt es das sogenannte Übergangsgeld. Pro Abgeordnetenjahr bekommen die Ex-Parlamentarier nach ihrem Ausscheiden einen Monat ihre vollen Diäten.
Müller-Sönksen kehrt in seine Anwaltskanzlei in Harvestehude zurück
Burkhardt Müller-Sönksen, 54, saß seit 2005 für die Liberalen im Bundestag, seit 1980 ist er Mitglied der FDP. Auch er will weiter politisch aktiv sein, sich jetzt aber erst einmal auf seinen Beruf als Rechtsanwalt und seine Familie konzentrieren. Schon ab kommender Woche wird er wieder in seiner Kanzlei in Harvestehude für seine Mandaten zu finden sein. „Und zwar ganz entspannt, fröhlich und munter“, wie er sagt. Ein bisschen Trotz schwingt in seiner Stimme aber mit. Seine Mitarbeiter und Referenten seien aber „alle versorgt und woanders untergebracht“. Sie dürften zu den wenigen gehören, die Glück gehabt haben.