Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz hält den Rückkauf der Energienetze für eine Spekulation mit ungewissem Ausgang. Eine Niederlage beim Volksentscheid würde er aber nicht persönlich nehmen.

Seit zweieinhalb Jahren regiert er unangefochten. Dieser Tage aber wird es dennoch ernst für Bürgermeister Olaf Scholz (SPD): Bei der Elbvertiefung droht eine weitere Verzögerung, erstmals seit Jahren gibt es Konflikte bei der Unterbringung von Flüchtlingen – und in drei Wochen steht nicht nur die Bundestagswahl an, sondern auch der Volksentscheid über den vollständigen Rückkauf der Energienetze.

Die Materie ist komplex, die Ausgangslage klar: Die Stadt hat sich unter dem SPD-Senat mit 25,1 Prozent an den von Vattenfall und E.on betrieben Hamburger Strom-, Gas- und Fernwärmenetzen beteiligt und dafür rund 544 Millionen Euro bezahlt. Die Volksinitiative „Unser Hamburg – unser Netz“ will nun durchsetzen, dass die Stadt das gesamte Netz zurückkauft für weitere rund 1,5 Milliarden Euro.

Beim Volksentscheid geht es also um die Frage 100 oder 25,1 Prozent – CDU, FDP und weite Teile der Wirtschaft unterstützen den Bürgermeister. Der gibt sich beim Interview im historischen Amtszimmer des Rathauses kämpferisch.

Hamburger Abendblatt: Herr Bürgermeister, Sie haben sich sehr gegen den vollständigen Rückkauf der Energienetze engagiert: Wäre es für Sie eine persönliche Niederlage, wenn die Initiative sich beim Volksentscheid dennoch durchsetzen würde?

Olaf Scholz: Ich werbe dafür, dass die Hamburgerinnen und Hamburger beim Volksentscheid mit Nein stimmen. Angesichts der hohen Schulden unserer Stadt sollten wir das Risiko nicht eingehen, insgesamt zwei Milliarden Euro für die Versorgungsnetze auszugeben. Aber: Volksentscheide sind eine vernünftige Ergänzung der parlamentarischen Demokratie. Dementsprechend ist die Entscheidung über die Netze eine Abstimmung über eine Sachfrage.

Würden Sie bei einer Niederlage mit aller Kraft umsetzen, was die Initiative will: den kompletten Rückkauf?

Scholz: Eindeutig ja. An uns wird es nicht scheitern.

Was sind die größten Risiken, wenn Hamburg die Netze zurückkauft?

Scholz: Der Rückkauf wäre eine Spekulation, die schiefgehen kann. Es ist ein wenig wie mit Schiffsfonds oder früher mit Immobilien in Ostdeutschland. Theoretisch kann man gewinnen. Aber wenn es ins Auge geht, wird es sehr teuer. In diesem Fall für uns alle. Es ist eine sehr hohe Summe, mit der wir uns verschulden müssten. Zu den 544 Millionen Euro, die wir für den Kauf von 25,1 Prozent der Netze bezahlt haben, kämen noch einmal rund 1,5 Milliarden Euro. Damit würden wir unser Gemeinwesen sehr anfällig machen. Ich kann davon als Bürgermeister nur abraten.

Sachverständige sagen, dass sich das Geschäft binnen 20 Jahren amortisieren könnte: Durch die Gewinne des Netzbetriebs würde man also Tafelsilber wieder aufbauen.

Scholz: Schön wär’s. Aber so einfach ist das nicht. Die Bundesnetzagentur will nicht, dass die Betreiber zu hohe Gewinne machen, die ja die Verbraucher finanzieren müssten. Die Regulierungen dieser Behörde haben in der jüngeren Vergangenheit dazu geführt, dass immer mehr Kommunen, die Strom- und Gasnetze besitzen, sich heute Sorgen machen, mit den Netzen in die Verlustzone zu rutschen. Wenn der jetzige Trend anhält, kann es dazu kommen, dass diese Kommunen irgendwann auf Netzen sitzen, die nichts mehr abwerfen. Im schlimmsten Falle werden die Netze zum Zuschussgeschäft.

Wenn das alles so riskant ist: Warum kämpfen Vattenfall und E.on so sehr darum, die Netze behalten zu dürfen?

Scholz: Es ist so, dass man mit Energienetzen Geld verdienen kann. Richtig ist aber auch, dass es vielen nicht gelingt. Es ist plausibel, dass Unternehmen, die über viele Jahre die Expertise und das Know-how entwickelt haben, sich den Netzbetrieb zutrauen. Die Gewinne hängen ja von der Effizienz des Netzbetriebs ab. Aber: Die für die Energiewende wichtige Frage, wie Energie erzeugt wird, hat mit dem Netzbetrieb nichts zu tun. Sie können als Netzbetreiber auch nicht verhindern, dass weiter Atomstrom durchgeleitet wird. Deswegen habe ich die Initiative oft gefragt: Was wollt ihr mit dem Netz überhaupt anfangen? Eine plausible Antwort habe ich nie gehört.

Eine Grundaussage der Initiative ist: Wir wollen nicht, dass die Stromnetze Vattenfall gehören. Die haben Deutschland wegen des Atomausstiegs verklagt. Und sie denken über einen Rückzug aus Deutschland nach. So sei kein Freund, kein Partner für die Energiewende.

Scholz: Wenn ich mit Unternehmen eine gemeinsame Gesellschaft für die Energienetze gründe, wie wir es mit E.on und Vattenfall getan haben, dann schließe ich keine Freundschaft. Man muss auch nicht heiraten. Wir verfolgen lediglich gemeinsame Interessen. Diese beiden Unternehmen verfügen über eine hohe Expertise im Betrieb von Netzen. Man kann Vattenfall vorwerfen, dass sie Atomkraftwerke in Deutschland betrieben haben. Wenn wir die HEW aber nicht verkauft hätten, würden diese Atomkraftwerke heute uns selbst gehören. Man sollte sich vor Polemik hüten.

Und wenn Vattenfall sich aus Deutschland zurückzieht, wie es Europa-Chef Hatakka angedeutet hat? Dann wäre Ihr Partner futsch.

Scholz: Bleiben wir mal logisch. Zu konstatieren: „Die wollen unbedingt das Stromnetz behalten“ und gleichzeitig sagen: „Die wollen sowieso gehen“, das passt doch nicht zusammen.

Doch. Weil man das Deutschlandgeschäft womöglich viel besser verkaufen könnte, wenn das Unternehmen wieder die wertvolle Konzession für die Hamburger Netze besitzt.

Scholz: Uns wurde gesagt, dass man Partner in Hamburg bleiben will. Für den Fall, dass es doch Veränderungen geben sollte, wäre das auch kein Problem. Wir haben uns alle notwendigen Rechte vertraglich gesichert, die uns Handlungsfreiheiten sichern. Es gibt dazu mehrere Klauseln in den Verträgen, die wir mit Vattenfall und E.on geschlossen haben.

Viele Ihrer Parteifreunde plädieren eher für Mehrheitsbeteiligungen, etwa Klaus Wowereit in Berlin.

Scholz: Ich kenne die Haushaltslage unserer Stadt. Deswegen gebe ich ungern mehr Geld aus, als ich für nötig halte. Es gibt gelegentlich Risiken, die man eingehen muss. Aber man muss in solchen Situationen hart verhandeln und nüchtern kalkulieren. Alles, was ich mit den Netzen erreichen will – hohe Investitionen, damit es stabil ist und damit es für die Erfordernisse der Energiewende modernisiert wird – all das erreiche ich mit den 25,1 Prozent und den Verträgen, die wir geschlossen habe. Es macht keinen Sinn, mehr zu kaufen, als man braucht. Übrigens: Es gibt im Norden auch knapp 200 Kommunen, die auf eine ähnliche Minderheitsbeteiligung setzen wie wir.

Kommen wir zu einem Dauerbrenner: Die Elbvertiefung verzögert sich weiter, weil das Bundesverwaltungsgericht womöglich den Europäischen Gerichtshof einschalten will. Die Grünen sagen immer: Macht doch lieber einen Kompromiss mit den klagenden Umweltverbänden!

Scholz: Schon die früheren Verantwortlichen haben versucht, mit den Klägern Kompromisse zu erzielen. Wir auch. Wir haben mit den meisten auch Kompromisse hinbekommen. Mit Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Mit Gemeinden an der Unterelbe. Mit den Obstbauern. Und mit vielen anderen. Anders als im amerikanischen Recht gibt es bei uns aber keinen Zwangsvergleich. Das heißt: Wenn die Mehrheit „Ja“ zu einem Kompromiss sagt, kann selbst ein einzelner Verbliebener weiterklagen und das Projekt blockieren. Mit der Forderung „Macht doch einen Kompromiss“ allein, macht man es sich zu einfach.

Mit anderen Worten, ein Kompromiss ist unmöglich?

Scholz: Wenn uns jemand sagt, verzichtet doch auf die Fahrrinnenanpassung, dann ist das kein Kompromiss. Wir sind immer zu Gesprächen bereit. Aber eines ist nicht verhandelbar: Wir müssen den Hafen, einen der erfolgreichsten und wichtigsten Häfen der Welt, modern und konkurrenzfähig halten. Der Hafen ist für Hamburg, für die Wirtschaft Deutschlands und Europas von größter Bedeutung. Er schafft Arbeit für Hunderttausende. Deshalb ist es nötig, die Fahrrinne der Elbe anzupassen.

Ein anderes Problem, das die Stadt gerade sehr beschäftigt, ist die stark steigende Zahl von Flüchtlingen. Ist Hamburg darauf vorbereitet?

Scholz: Die wachsende Zahl von Flüchtlingen ist eine große Herausforderung. Die größte Schwierigkeit rührt daher, dass die Zahlen so plötzlich steigen. Wir haben eine sehr geringe Leerstandsquote und einen Wohnungsmangel. Das heißt: Gebäude und Flächen für Unterkünfte sind in Hamburg schwer zu finden. Aber wir geben uns alle Mühe, das hinzubekommen. Und wir werden am Ende Lösungen finden. Wir wollen dabei vermeiden, dass sich die Unterbringung in wenigen Stadtteilen konzentriert.

Glauben Sie in der jetzigen Lage an die Solidarität der Hamburger mit den Flüchtlingen? Oder müssen wir Ausschreitungen wie in Berlin fürchten?

Scholz: Ich wünsche mir, dass alle gemeinsam verstehen, dass das ein schwieriges Problem ist. Dass Flüchtlinge zu uns kommen, hat damit zu tun, dass es nicht überall auf der Welt so gut zugeht wie bei uns. Unzählige müssen um Leib und Leben fürchten und brauchen Schutz. Ich bin aber überzeugt, dass wir das in Hamburg gemeinsam hinkriegen werden. Ich glaube nicht, dass es bei uns zu Szenen wie in einem Stadtteil von Berlin kommt. Viele Kirchengemeinden, aber auch viele Hamburgerinnen und Hamburger sind privat ja sehr engagiert. Und dass vieles auch ehrenamtlich für die Flüchtlinge unternommen wird, hilft ungemein. Der Staat wäre überfordert, wenn er auf sich allein gestellt wäre.

In drei Wochen ist nicht nur Volksentscheid, sondern auch Bundestagswahl. Macht der Wahlkampf angesichts der schlechten Umfragen und der fehlenden Wechselstimmung überhaupt noch Spaß?

Scholz: Wir kämpfen um einen Auftrag der Wählerinnen und Wähler. Das tun wir in den Wahlkreisen. Und im Bund. Wir alle haben bei der Niedersachsen-Wahl erlebt, dass die Vorhersagen manchmal nicht eintreten, und dass es sich lohnt, bis zur letzten Minute Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch wenn es unserem Land gut geht, geht es nicht allen in unserem Land gut. Wir müssen mehr für den Zusammenhalt tun. Und darum geht es am 22. September.

Es sieht nicht nach einer Mehrheit für Rot-Grün aus, womöglich auch nicht für Schwarz-Gelb. Die SPD hätte dann die Wahl zwischen einem rot-rot-grünen Bündnis, einer Großen Koalition oder einer Ampelkoalition mit Grünen und FDP. Wozu raten Sie Ihrer Partei?

Scholz: Zunächst einmal rate ich allen – auch den Journalisten dieses Landes – dass sie die Demokratie ernst nehmen und die Wahl nicht für gelaufen halten, bevor sie stattgefunden hat. Das Schöne an der Demokratie ist, dass die Bürgerinnen und Bürger entscheiden – und nicht Strategen in Parteizentralen oder Redaktionen. Warten wir also ab. Klar ist: Wir machen keine Koalition mit der Partei „Die Linke“. Und wir lassen uns auch nicht von ihr tolerieren.

Wie ist Ihre Zielmarke für Hamburg?

Scholz: Wir wollen alle sechs Wahlkreise direkt gewinnen.