Um sich aus dem Sog der Abhängigkeit zu befreien, müssen Betroffene die Ursachen verstehen - und mit Hilfe ihre Denkweise ändern.
Wenn Kurt Siegmann* von den Tiefpunkten seines Lebens erzählt, ist das zugleich eine Liebeserklärung an seine Frau. "Ohne sie", sagt der 45-Jährige, "hätte ich all das nicht verkraftet." Er meint die Erinnerungen an den alkoholkranken Vater, der sich vor den Augen des Sohnes, als der 15 Jahre alt war, in den Kopf schoss - und überlebte. Er meint Gedanken an die Mutter, die auch viel trank und den Vater aufstachelte, den Sohn zu verprügeln. Er meint die Suizidgedanken. "Hört sich vielleicht irre an, aber vieles damals ist irre gewesen", sagt Siegmann.
Tatsächlich kann einem die Geschichte des gebürtigen Hamburgers unwirklich vorkommen, wenn man ihm gegenübersitzt, die Lachfältchen um seine Augen sieht und zuhört, wie er bei einer Tasse Kaffee über Aggressionen und Gewalt, Angst und Trauer referiert und erzählt, wie er mit 21 Jahren dem Alkohol verfiel. Doch all das sei wirklich geschehen, versichert Siegmann. Warum wir darüber berichten? Weil seine Geschichte zeigt, dass selbst nach derart schlimmen Erlebnissen und vielen Jahren der Abhängigkeit die Rückkehr in ein weitgehend normales Leben möglich ist - mit der richtigen Therapie. Und mit der Unterstützung von Angehörigen.
Psychische Nöte sind oft ein Grund, warum Menschen in den Sog der Sucht geraten. Dabei muss es Abhängige nicht so hart treffen wie Kurt Siegmann. Auch Arbeitslosigkeit kann Menschen zur Flasche greifen lassen. Allerdings führten psychische Nöte nicht zwangsläufig in die Sucht, sagt Dr. Klaus Behrendt, Chefarzt der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen der Asklepios Klinik Nord in Ochsenzoll. "Meist begünstigt ein Zusammenwirken von sozialen, psychischen und genetischen Faktoren das Risiko, süchtig zu werden."
Die psychische Stabilität etwa sei mal leichter und mal schwerer zu erschüttern; zudem würden einige Menschen genetisch bedingt eher abhängig von bestimmten Substanzen als andere Menschen. Man sollte Menschen grundsätzlich nicht vorschnell als Abhängige bezeichnen, sagt Behrendt. "Die Diagnose einer Suchterkrankung können Therapeuten erst nach einem vertrauensvollen Gespräch stellen."
Wo aber beginnt die Sucht? Ist alkoholabhängig, wer jeden Abend ein Glas Rotwein trinkt? Um das zu beurteilen, richten sich Ärzte und Therapeuten nach der zehnten Ausgabe der ICD (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation. Dieses System gibt vor, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit von einer Erkrankung gesprochen werden kann. Bei der Sucht beschränkt sich das Werk bisher auf stoffliche Abhängigkeiten, also etwa Nikotin, Alkohol und Drogen. Um eine Abhängigkeitserkrankung handele es sich, wenn von sechs Symptomen mindestens drei in den vergangenen zwölf Monaten aufgetreten seien.
Erstens der starke, zwanghafte innere Drang, die Substanz zu sich zu nehmen, also etwa die Gier nach dem nächsten Schluck, dem der Betroffene nachgeben muss. "Das ist ganz klar ein psychisches Phänomen und nicht zu verwechseln mit Entzugserscheinungen", sagt Behrendt.
Das zweite Warnsignal: wenn man nicht mehr kontrollieren kann, wann man eine Substanz konsumiert und wann man damit aufhört. "Wer sich etwa regelmäßig vornimmt, nur ein Glas Rotwein zu trinken, und dann aber regelmäßig eine Flasche leert, hat ein Problem", sagt Behrendt.
Drittens: die Entwicklung einer Toleranz. Um dieselbe Wirkung zu erzielen, braucht der Betroffene immer mehr von der Substanz.
Viertens: körperliche Entzugssymptome. Diese kämen zumindest bei der Alkoholabhängigkeit aber nur bei etwa der Hälfte der Betroffenen vor, sagt Behrendt. Auch Kurt Siegmann sagt, dass bei ihm nie das typische Zittern der Hände aufgetreten sei.
Das fünfte Warnsignal für eine Abhängigkeit: Die Sucht hat Vorrang vor allem anderen. Der Alkohol, das Heroin, erst einmal muss dieses Bedürfnis befriedigt werden. Alles andere steht hinten an. "Viele Süchtige ziehen sich aus dem Sozialleben zurück. In extremen Fällen haben sie nur noch Kontakt zu anderen Abhängigen, weil sie sich schuldig fühlen und Nachfragen aus dem Weg gehen", sagt Klaus Behrendt.
Sechstens: Der Betroffene konsumiert die Substanz weiter, obwohl das schädliche Folgen hat. Die Leber geht kaputt, der Führerschein wird eingezogen, die Familie bricht auseinander, der Arbeitsplatz geht verloren - doch der Betroffene kann das nicht seiner Sucht zuordnen und entsprechend handeln.
Oft werde die Sucht erst erkannt, wenn der Hausarzt zum Beispiel erhöhte Leberwerte feststelle oder der Betroffene sturzbetrunken im Krankenhaus lande, sagt Behrendt. Im günstigsten Fall erkenne der Betroffene selbst, dass er ein Problem hat, und gehe zu seinem Hausarzt, der dann eine stationäre (bei schweren Fällen) oder ambulante Behandlung vermittele und den Patienten in das Hamburger Suchthilfesystem einbinde.
Bei Alkoholabhängigen gehört zur Behandlung ein Entzug; viele Patienten durchlaufen eine Psychotherapie. "Dabei geht es darum, bestimmte Denkweisen zu verändern", erläutert Behrendt. "Der Patient soll erkennen, wie er abhängig geworden ist und dass er dem Suchtmittel widerstehen kann."
Der Weg zur Gesundung ist meist mühsam. Kurt Siegmann war 14 Jahre lang abhängig; trotzdem schaffte er es oft, seinem Beruf als Handwerker nachzugehen. Für seine Frau und seine beiden Söhne war er jedoch eine Belastung, weil unberechenbar: mal liebevoll und ganz entspannt, dann sternhagelvoll, aggressiv, depressiv. "Wenn du jetzt nicht aufhörst, ist es vorbei", sagte seine Frau dann. Er begann eine Therapie - und brach sie ab. Begann eine neue Therapie - und hielt wieder nicht durch. Seine Frau blieb bei ihm, trotzdem.
"Ich habe gekämpft, gekämpft, gekämpft", erzählt Siegmann. 2005 begann er eine Entgiftung in Ochsenzoll. Dort traf er einen Therapeuten, der ihm die Augen öffnete. "Er machte mir klar: Meine Anklagen bringen mir keinen Frieden. Ich wollte in die ganze Welt hinausschreien, wie ungerecht ich als Kind behandelt worden war, ich wollte unbedingt von meiner Mutter geliebt werden - und ich betäubte meine Wut und meinen Schmerz mit Alkohol. Doch all das führte zu nichts." Siegmann brach den Kontakt zu seiner Mutter ab; sein Vater war inzwischen gestorben. Er hielt die neue Therapie im Hummelsbütteler Sozialzentrum durch. Er nimmt seitdem Antidepressiva.
Heute sei er trocken und fühle sich "um Klassen besser", sagt Siegmann. Er hat Ende Januar eine Umschulung zum Großhandelskaufmann abgeschlossen; jetzt hofft er auf einen neuen Job.
* Name von der Redaktion geändert