Wenn die Seele leidet, Teil 4: Wird der Stress zu groß, droht irgendwann totale Erschöpfung. Bestimmte Eigenschaften tragen dazu bei, dass es schneller zum Gefühl des Ausgebranntseins kommt
Vor 14 Jahren fing das alles an, langsam. "Es gab einzelne Tage, etwa viermal im Jahr, an denen es mir nicht gut ging. Ich hatte an nichts Freude und keinen Antrieb, wollte am liebsten den ganzen Tag im Bett bleiben", erinnert sich Andreas W.* Vor zehn Jahren waren es dann schon drei bis vier Tage im Monat. Die Arbeit wurde immer mehr zur Belastung für ihn. "Mir war, als würden mir Tonnen auf den Schultern liegen, wenn ich morgens zur Arbeit ging. Ich hatte auch Selbstmordgedanken", erzählt der 55-Jährige, der damals als Angestellter in einer Führungsposition tätig war. In seinem Job herrschte großer Leistungs- und Termindruck; er musste sich stark anpassen. "Wenn ich abends nach Hause kam, war ich leer, erschöpft und ohne Kraft für Hobbys." Das ertrug er - jahrelang, bis er nicht mehr konnte. Und zum Arzt ging. Vor sieben Jahren wurde bei ihm die Diagnose Burn-out gestellt. Andreas W. wurde krankgeschrieben und in der Tagesklinik des Psychosomatischen Fachzentrums Falkenried in Eppendorf behandelt.
So wie ihm geht es mittlerweile vielen Menschen, wenn der Stress im Beruf oder Privatleben zu groß wird. Dann kann kein Urlaub mehr für Erholung sorgen. Es gibt nur noch das Gefühl von grenzenloser Erschöpfung, Leere, Ausgebranntsein.
Immer mehr Menschen sind von einem Burn-out betroffen, das nach dem gültigen Diagnoseschlüssel ICD 10 noch nicht als eigenständige Krankheit anerkannt ist. Laut dem Gesundheitsreport 2012 der Betriebskrankenkassen lag die Zahl der Krankheitstage je 1000 ihrer Mitglieder 2004 noch bei 4,6. Im Jahr 2011 waren es bereits 86,9 Tage. Angesichts dieser dramatischen Entwicklung spricht Prof. Stephan Ahrens, Leiter des Psychosomatischen Fachzentrums Falkenried, von einer "psychosozialen Epidemie". Am stärksten betroffen sind Menschen in Führungspositionen, jedoch gibt es keine Berufsgruppe, die davon verschont bleibt.
Das Tückische am Burn-out: Es entwickelt sich so schleichend, dass Betroffene oft erst spät merken, dass etwas nicht stimmt. Menschen in ihrer Umgebung fällt es oft eher auf als ihnen selbst. Ahrens unterteilt den Verlauf in vier Phasen: Im ersten Stadium merken die Patienten Überforderung, Anstrengung. Im zweiten Stadium leiden sie unter Schlafstörungen, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten. Die Arbeit erfordert vermehrte Anstrengungen. Im dritten Stadium kommt es zu Gleichgültigkeit, Problemen mit Kollegen, Gereiztheit, zunehmender Erschöpfung. Im vierten Stadium treten dann psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angst- oder psychosomatische Störungen auf, begleitet von totaler Erschöpfung. "Spätestens dann ist ärztliche oder psychologische Hilfe nötig", sagt Ahrens. Im ersten und zweiten Stadium könne man sich noch selbst helfen, durch Erholung oder Ausgleich im Privatleben. In Stadium drei sei zumindest Coaching angesagt, professionelle Unterstützung von jemandem, der sich mit der Arbeitssituation auskenne.
Ob jemand durch starken Stress ein Burn-out bekommt, hängt nicht nur von seiner Arbeitsbelastung ab. "Es ist immer ein Effekt zwischen dem Menschen und seinem privaten und beruflichen Umfeld. Wer ein gutes Privatleben hat, kann sich oft so von der Stressbelastung distanzieren, dass sie an ihm abprallt. Und er kann Mechanismen aufbauen, die ihm helfen, stabil zu bleiben", sagt Ahrens. Wer aber dazu neige, sich bei der Arbeit unentbehrlich zu fühlen, keine Aufgaben delegieren kann, es allen recht machen möchte und viel Anerkennung braucht, werde wesentlich schneller zum Opfer des Zwiespalts zwischen Arbeitsbelastung und eigenen Ansprüchen.
Wenn diese Patienten zu Ahrens in die Sprechstunde kommen, sind sie mit ihrer Kraft am Ende, erfüllt von dem Gefühl: Ich kann nicht mehr. Je nach Schweregrad der Symptome erfolgt die Behandlung stationär, in der Tagesklinik oder ambulant. Im Fachzentrum und den angegliederten Einrichtungen können nur Privatversicherte, Beamte und Selbstzahler behandelt werden. Gelegentlich wird die Therapie auch auf Antrag von Ersatzkassen bezahlt.
"Im ersten Schritt versuchen wir gemeinsam mit dem Patienten zu analysieren, wie sein Zustand ist und welche Faktoren diesen herbeigeführt haben. Dann wird ein Therapiekonzept entwickelt", sagt Ahrens. So gibt es zwei Möglichkeiten der Psychotherapie: Die tiefenpsychologische Therapie, wenn die frühere Lebensentwicklung des Menschen eine Rolle spielt, und die Verhaltenstherapie, wenn seine jetzige Situation im Mittelpunkt steht. Zudem werden mehrere Körpertherapien angewandt (siehe Glossar rechts). "Diese Körpertherapien können im Patienten Gefühle wachrütteln, an die man im Gespräch nicht herankommt. Dann können wir in der Psychotherapie darüber sprechen", sagt Ahrens. Die Behandlung dauert in der Tagesklinik vier bis sechs Wochen und kann dann ambulant weitergeführt werden.
Für manchen ist danach klar, dass der bisherige Job nicht mehr der richtige ist: "30 Prozent integrieren sich wieder an die Arbeitsstelle, die anderen wechseln innerhalb eines Jahres nach der Behandlung den Arbeitsplatz - entweder in der Firma, oder den Arbeitgeber", berichtet Ahrens. Andreas W. ging wieder in den alten Job zurück. "Das ging eine Zeit lang gut. Dann bin ich wieder ausgefallen und war ein weiteres Mal für längere Zeit in der Tagesklinik", erzählt er. Danach sei er aus seinem Job ausgeschieden. Seit mehr als einem Jahr ist Andreas W. jetzt selbstständig.
Heute fühlt er sehr viel wohler. Jetzt will er herausfinden, was es in seinem Leben neben der Arbeit noch gibt. Für die Zukunft wünscht er sich, besser zu erkennen, was ihm guttut, und öfter mal Nein sagen zu können. "Ich genieße heute, dass ich mir alles selbst einteilen und mir auch zugestehen kann, mal einen Nachmittag nicht zu arbeiten."
* Name von der Redaktion geändert
Weitere Infos und Verweis auf Burn-out-Selbsttest: www.abendblatt.de/burn-out