Sie sehnen sich nach der Nähe zu anderen Menschen, fürchten sich gleichzeitig davor. Diese Probleme sind typisch für eine Borderline-Störung
Schon als Kind habe ich gemerkt, dass ich anders war als andere. Ich habe keinen Schmerz gespürt, keine Freude, keine Trauer. Deswegen konnte ich diese Gefühle auch bei anderen nicht verstehen", erzählt Judith L.*, 33. Kaum vorstellbar ist, was das Mädchen damals durchmachen musste: Jahrelang sei sie von ihrem Vater, den sie heute nur noch ihren Erzeuger nennt, misshandelt und sexuell missbraucht worden. Die Torturen, so vermutet Judith, müssen schon angefangen haben, als sie noch sehr jung war. "Mit sechs Jahren unternahm ich meinen ersten Selbstmordversuch. Ich wollte mich im Gartenteich ertränken, aber die Nachbarin hat mich gerettet." Ihr Martyrium fand erst mit 16 Jahren ein Ende, als sich ihre Eltern trennten. Ihre Mutter heiratete ein zweites Mal, einen Mann, zu dem Judith L. ein sehr gutes Verhältnis hat.
Vor acht Jahren dann wollte Judith L. vom Hochhaus springen. Auslöser war, dass sie sich erneut von ihrem Vater terrorisiert fühlte, als sie - auf ihre Bitte hin - vom zweiten Ehemann ihrer Mutter adoptiert wurde. Damals wurde bei Judith L. die Diagnose einer Borderline- Persönlichkeitsstörung gestellt.
So wie ihr erging es vielen Borderline-Patienten in ihrer Kindheit. "Heute weiß man, dass etwa 80 Prozent der Patienten in der Kindheit oder Jugend sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt wurden", sagt Dr. Birger Dulz. Er leitet in der Asklepios-Klinik Nord-Ochsenzoll die Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen, in der die Behandlung von Borderline-Patienten seit 24 Jahren ein Schwerpunkt ist. Als zentrale Ursache sieht der Psychiater, dass Bedürfnisse des Kindes missachtet werden. Das könne aber auch schon der Fall sein, wenn zum Beispiel ein Kind wegen einer Erkrankung lange im Krankenhaus bleiben müsse.
Die Störung von engen Beziehungen ist das Hauptsymptom einer Borderline-Störung. Charakteristisch dafür ist starke Sehnsucht nach großer Nähe. Doch in dem Moment, wo sich diese anbahnt, entwickelt sich eine große Angst davor, und das führt zu einer Gegenbewegung. Das heißt, jemand mit einer Borderline-Störung stellt dann - oft unbewusst - wieder eine große Distanz zu dem anderen Menschen her. Das wirkt sehr ambivalent, wie ein ständiges "Komm her, geh weg". Wie stabil Beziehungen dieser Patienten sind, hängt davon ab, wie schwer die Störung ist, wie stabil die äußere Umgebung ist und die anderen Personen sind.
Zusätzlich können diese Patienten Suizidgedanken, Verfolgungsängste, Zwänge, Phobien, Aggressivität und Störungen der Sexualität haben oder Drogen konsumieren. Ein häufiges Symptom sind auch Selbstverletzungen wie das "Ritzen". "Aber nicht jeder, der sich solche oberflächlichen Hautverletzungen zufügt, leidet an einer Borderline-Störung", betont Dulz. Die Schwere der Erkrankung könne unterschiedlich sein: "Manche Patienten sind so schwer gestört, dass wir unsere Behandlung darauf konzentrieren, sie am Leben zu erhalten. Andere brauchen eine stationäre, wieder andere nur eine ambulante Therapie. Und manche sind durch äußere Faktoren so stabilisiert, dass sie keinen Leidensdruck haben und kein Bedürfnis nach einer Therapie", sagt Dulz.
Berufstätige Borderline-Patienten seien häufig leistungsorientiert, extrem gut und kreativ, sagt der Psychiater. Auch Judith L. fand Selbstvertrauen in ihrem Beruf. Schon während der Schule fing sie an zu arbeiten und machte dann eine handwerkliche Ausbildung. "Ich habe eine steile Karriere gemacht und mich über die Arbeit stabilisiert." Alle ihre sozialen Kontakte waren auf die Arbeit beschränkt - bis sie ihren heutigen Mann kennenlernte, mit dem sie seit zwölf Jahren glücklich verheiratet ist. Trotzdem gab es Probleme: Sie vertrug keine Komplimente, hatte Schwierigkeiten mit der Sexualität.
An einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ leiden zwischen ein und zwei Prozent der Bevölkerung, Frauen etwas häufiger. Dulz gibt auch zu bedenken, dass unter der Traumatisierung der Patienten auch deren Kinder leiden können. Das kann sich dann bei diesen zum Beispiel durch Schlaf- oder Essstörungen, Aggressivität oder Drogenkonsum äußern.
Mit einer Therapie wollen Ärzte auch verhindern, dass aus den Opfern Täter an ihren Kindern werden. Zur Diagnose ziehen sie neben dem ausführlichen Gespräch mit dem Patienten auch Fragebögen heran. In der Behandlung werden vor allem psychotherapeutische Verfahren eingesetzt (siehe Glossar). Medikamente können manchmal einzelne Symptome lindern, aber die Erkrankung nicht beseitigen.
Eine stationäre Therapie hat das Ziel, dass der Patient eine ambulante Therapie aufnehmen und durchhalten kann. "Aber das ambulante Angebot an Therapieplätzen reicht nicht aus", betont Dulz. Insgesamt sei die Behandlung der Borderline-Störung aber sehr erfolgreich. "Zwei Drittel bis drei Viertel der Patienten sind nach Abschluss der stationären und anschließenden ambulanten Therapie fast völlig wiederhergestellt. Symptome gehen zurück, das Beziehungsverhalten wird besser", sagt Dulz. Aber es kann immer wieder zu Krisen kommen, besonders, wenn in engen Beziehungen Störungen auftreten. Um das zu verhindern, sollten Betroffene ein Gefühl dafür entwickeln, wann es problematisch wird, und sich Hilfe zu holen, rät Dulz. Sie sollten sich nicht verkriechen. Wichtig sind auch eine gute Tagesstruktur, wenig Alkohol und kein Drogenkonsum.
Bei Judith L. war der Grund für eine erneute Aufnahme in die Klinik ein Zusammenbruch, weil sie sich bei ihrer Arbeit übernommen hatte. "Ich konnte irgendwann nicht mehr, hatte Selbstmordgedanken, habe mich geschnitten und bin mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen." Zweimal, insgesamt 13 Monate, war sie auf der Station in Ochsenzoll. "Jetzt bin ich viel mehr an meinen Gefühlen dran, kann Freude, Trauer und Angst zulassen, bin ruhiger geworden. Selbstfürsorge übe ich noch."
Für die Zukunft wünscht sie sich, dass sie ihre Freunde behält. "Ich habe nicht sehr viele, aber sehr enge Freunde". In der Klinik hat sie zwei weitere Menschen kennengelernt, die ihr sehr viel bedeuten. "Und dann hoffe ich, dass ich meinen Mann wieder emotional an mich heranlassen kann. Ich will nicht immer nur die perfekte Ehefrau sein, sondern ihm auch meine Gefühle zeigen - wahre Freude, aber auch Angst und Traurigkeit."
* Name von der Redaktion geändert