Das Abendblatt bat zwei Hamburger Altbürgermeister von der SPD, Klaus von Dohnanyi und Henning Voscherau, um ihre Meinung zur Schulreform.
Hamburg. Warum ich dafür bin
Klaus von Dohnanyi: Trennung nach vier Jahren ist ungerecht und unsozial
Die Bürgerschaft und alle Parteien haben gemeinsam entschieden, das Hamburger Schulsystem zu erneuern. Es endlich von Grund auf besser zu machen: Ausbau der Kitas, kleinere Klassen, mehr Lehrer für einen Unterricht, der sich noch stärker den einzelnen Kindern zuwendet; Erneuerung der Schulgebäude und Sportstätten, und so weiter. Der Senat muss an vielen Stellen der Stadt sparen - im Schulbereich wird er es nicht tun! Hier wird mehr Geld in eine erfolgreichere Zukunft unserer Kinder und Enkel gesteckt. Endlich und einstimmig - was für eine großartige Entscheidung von Senat und Opposition. CDU, SPD, Grüne und Linke endlich Schulter an Schulter. So wünschen wir uns doch die Politik.
Aber Senat und die ganze Bürgerschaft wollen ja noch weiter: Es soll endlich auch Schluss sein mit einer Hauptschule, die leider noch immer für viele Kinder ein Weg in die berufliche Sackgasse geblieben ist. Nicht immer, nicht überall - aber eben doch zu oft. Unsere Welt aber verändert sich schnell. Was früher noch einfach zu erlernende Berufe waren, das verlangt heute oft schnelles Rechnen; man muss Zeichnungen und Anleitungen lesen können, Computer bedienen und immer häufiger sogar Grundzüge der englischen Sprache beherrschen. Deswegen hat die Bürgerschaft, ebenfalls ohne Gegenstimmen, beschlossen, die Haupt-, die Real- und die Gesamtschule zusammenzuschließen und in diesen neuen "Stadtteilschulen" nach 13 Schuljahren ebenfalls das Abitur zu ermöglichen.
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In Zukunft soll es also nur noch drei Schularten geben - die Stadtteilschule, das Gymnasium und die Grundschule, die nun "Primarschule" heißen soll. Warum? Und warum ist die Primarschule trotz der sonst so einhellig begrüßten Reform der Hamburger Schulen so umstritten?
Weil die Bürgerschaft einstimmig beschlossen hat, dass die Grundschule (also zukünftig die "Primarschule") nicht mehr nur vier Jahre dauern soll, sondern sechs Jahre. Und weil das bedeuten wird, dass die Schulzeit im Gymnasium bis zum Abitur statt heute acht Jahre nur noch sechs Jahre betragen wird. Allerdings werden Gymnasiallehrer auch schon in der Primarschule mitunterrichten, um die Kinder schnell genug voranzubringen.
Stimmt es dann, wenn die Reformgegner behaupten, Senat und Bürgerschaft wollen das Gymnasium "zerstören", die "Axt daran legen" und dergleichen mehr? Ist dieser Vorwurf berechtigt? Lässt sich mit dieser falschen Behauptung eine Ablehnung der sonst von allen Parteien getragenen Hamburger Schulreform begründen? Ich meine: Nein!
Zunächst: Warum sollen die Kinder länger gemeinsam zur Schule gehen? Der Hauptgrund hierfür ist, dass wir schon immer wussten, Kinder zwischen sechs und zehn Jahren entwickeln sich unterschiedlich schnell. Jungen meist langsamer als Mädchen. Die Kinder von Eltern, die sich frühzeitig um Sprache und Bildung kümmern können, hatten eine bessere Chance auch früher reif für das Gymnasium zu sein. Das alles war schon immer so und das war auch der Grund dafür, dass heute in allen (!) mit uns vergleichbaren europäischen und anderen Staaten der Welt die Kinder mindestens sechs Jahre, meist aber acht oder mehr Jahre gemeinsam lernen. Die Kinder früher, also vor einer gemeinsamen Schulzeit von sechs Jahren zu trennen, wurde überall als bildungspolitisch falsch, auch als ungerecht und unsozial erkannt und deswegen abgeschafft - nur noch nicht bei uns! Ist diese Lage Deutschlands vielleicht auch ein Grund dafür, dass wir bei allen Bildungsvergleichen mit anderen Ländern nicht wirklich gut abschneiden?
Es ist noch nicht so lange her - Helmut Schmidt jedenfalls ging in Hamburg gerade zur Schule, da trennte man die Kinder bereits mit sechs Jahren voneinander: die einen in die "Volksschule", die Schule für alle - außer für die Kinder von Akademikern, die kamen in die Vorschule für das Gymnasium. Erst vor rund 85 Jahren wurde diese ungerechte Schulpolitik für eine kleine Oberschicht endlich abgeschafft.
Heute gibt es gerade für Deutschland viele zusätzliche Gründe dafür, dass die Kinder die ersten sechs Jahre gemeinsam lernen. Ein sehr wichtiger Grund ist, dass wir viele Kinder von Migranten haben, die sich, auch bei nachdrücklichem Einsatz der Eltern, oft nicht so schnell in der Schule bewähren können. Die Kinder gerade der wohlhabenderen deutschen Familien können dagegen ihren Kindern viele Lernvorteile ermöglichen.
Allerdings: Auch die Befürworter der Erneuerung der Hamburger Schulen und der sechsjährigen Primarschulen sind froh und dankbar dafür, dass es viele Eltern gibt, die sich selbstlos für die schulische Zukunft ihrer Kinder einsetzen, um ihnen das Gymnasium zu ermöglichen. Aber andere Eltern haben eben diese Chance nicht in gleichem Maße.
Und der Einsatz verantwortungsvoller Eltern sollte doch nicht auf Kosten der anderen Kinder gehen, der Kinder aus den ärmeren Schichten, aus den weniger wohlhabenden Stadtteilen, der Kinder von sprachlich nicht akzentfrei Deutsch sprechenden Migranten! Uns muss es doch um die Kinder gehen, um deren Chancen, notfalls eben auch unabhängig vom Engagement der Eltern.
Wir, die Befürworter der Schulreform, sind natürlich für das Gymnasium und für seine oft außerordentlichen Qualitäten. Aber wir wollen eben allen Kindern eine Chance für diese hervorragende Schulbildung geben und wir wollen die im Start benachteiligten Kinder von dieser großen Möglichkeit nicht ausschließen!
Deswegen: Gehen Sie am Sonntag, den 18. Juli zur Wahl! Stimmen Sie für den Beschluss der gesamten Bürgerschaft. Lehnen Sie damit den Rückschritt, die schlechtere Bildungspolitik und die sozialen Ungerechtigkeiten ab, die von den Gegnern der Schulreform beabsichtigt sind. Hamburg war immer eine freie, leistungsstarke, aber eben auch eine soziale Stadt. Und auf diesen bewährten Weg weist die Vorlage der Bürgerschaft.
Warum ich dagegen bin
Henning Voscherau: Den sehr begabten Schülern wird nachhaltig geschadet
Drei Hamburger Bürgermeister , "eine Meinung" - so berichtete das Abendblatt -, werben im Hamburger Rathaus, das doch allen gehört, auch den Gegnern, für die Schulreform des schwarz-grünen Senats. Gleichzeitig untersagt die - stark von Parteien dominierte - Medienanstalt Werbespots der Hamburger Volksinitiative "Wir wollen lernen" in privaten Sendern. Zweierlei Maß in Angelegenheiten der Demokratie, in denen zweierlei Maß von Verfassung wegen nicht erlaubt ist!
Schlagender lässt sich die Entmündigung des Volkes durch die - im Grundgesetz so nicht angelegte - Parteienherrschaft nicht auf den Punkt bringen. Haben die Bürgerinnen und Bürger die Gelegenheit erstritten, selbst zu entscheiden - flugs schließen die Parlamentsparteien "Schulfrieden" und versuchen gemeinsam, dem Volk seinen Entscheid aus der Hand zu schlagen. Ein Etikettenschwindel, da doch in der Bevölkerung das Gegenteil von Frieden herrscht. Im Ringen um die Mehrheit wird zusätzlich Öl ins Feuer gegossen, teils mit klassenkämpferischen Parolen, teils mit abwertenden Unterstellungen gegen die Motive solcher Eltern und Großeltern, die sich eine eigene Meinung herausnehmen. Ebenso wie Schule legitimiert sich Politik ausschließlich in dienender Funktion. Lehrer sind für die Schüler da, nicht umgekehrt. Politiker sind für die Bürger da, nicht umgekehrt. Lasst die Bürgerinnen und Bürger frei von Parolen und Manipulation selbst entscheiden, welche Schule es geben soll.
+++ Voscherau plädiert für Rot-Grün - wenn von Beust zurück tritt +++
Die sechsjährige Primarschule bringt erhebliche Reibungsverluste mit sich und kostet über viele Jahre sehr viel Geld - für Neubauten, Umbauten und auch für Lehrerstellen, sonst wird sie scheitern. Herr von Beust und Frau Goetsch wissen das und versprechen, die notwendigen Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen. Wirtschaftliche und politische Erfahrung lehrt hingegen: Die aktuelle Haushaltskrise ist schon da, die nächste folgt bestimmt, Rettungspakete und Schuldenbremse schauen um die Ecke. Wer wollte auf solche finanziellen Versprechungen ein Schulwesen bauen, insbesondere nachdem in den fetten Jahren seit 2001 unglaublich viel Geld für Prestigeprojekte verbrannt worden ist? Wenn aber die Mehrbedarfe der Primarschule nicht auf Dauer auskömmlich durchfinanziert werden könnten - wer wird die Folgen ausbaden? Wieder 20 Schülerjahrgänge wie jene, die infolge des antiautoritären Irrtums einer ganzen Lehrer- und Elterngeneration vielfach nicht hinreichend lesen, schreiben und rechnen für ihren Beruf lernten?
Vier oder sechs Jahre gemeinsamen Lernens können für keine Seite ein Dogma sein - weder dafür noch dagegen. Gute Schule kann und muss in vier und in sechs gemeinsamen Jahren gelingen. Im Mittelpunkt aller Reformanstrengungen hat jedoch zu stehen "mehr und besser lernen". Dagegen ist "länger gemeinsam lernen" nur dann verantwortbar, wenn es dazu nicht in Widerspruch gerät. Es gibt Kinder, die mit sechs Jahren gemeinsamen Lernens besser vorankommen. Gut so. Für viele wird im Ergebnis ganz gleich sein, ob vier oder sechs. Gut so. Aber was macht die Schulreform mit der Minderheit sehr begabter Schüler - ob Pastorenkind oder Kind afghanischer Flüchtlinge -, denen durch zwei weitere Jahre zu langsamen Lernens, durch "nervende" Wiederholung, Langeweile, Unterforderung, Abschalten nachhaltig geschadet würde? Dazu hat der Staat das Recht nicht. Ist denn nicht wahr, was der "Spiegel" in der vorigen Woche schrieb, dass Geist und Expertise, Deutschlands wichtigste Ressource, knapp geworden ist? Leben wir nicht mehr von unserem Vorsprung?
Man komme mir nicht mit dem Patentrezept der Binnendifferenzierung. Damit waren schon die sechszügige Gesamtschule, eine anonyme Schulmaschine, dann die vierzügige, die drei- und schließlich die zweizügige Gesamtschule nur eingeschränkt erfolgreich, an unterschiedlichen Standorten und aus unterschiedlichen Gründen. Was spricht dafür, dass Binnendifferenzierung in der Primarschule gelingt? "Jedes Kind ist anders" plakatiert einsam die FDP, und das wird ja nicht falscher, nur weil sie es ist, die das plakatiert. Die inhaltliche Bringschuld von Senat und Bürgerschaft zu der Kernfrage, warum Kinder (und gezwungenermaßen alle) in sechs gemeinsamen Jahren mehr und besser lernen als in vier, geht im Getöse der aktuellen Machtprobe unter. Als Maßstäbe sind aber nur erlaubt: Welche Schule ist die beste für alle; welche Schule ist die beste für jede/n. Auf beides kommt es an, ganz dasselbe ist es nicht. Niemals darf das Staatsziel bestmöglicher Bildung für alle in Gegensatz gebracht werden zu dem individuellen Recht jedes Kindes auf seine bestmögliche Bildung. Die Pflicht, beides gleichermaßen zu gewährleisten, trifft aber den Staat, nicht den Mitschüler, wenn dieser deshalb staatlich gezwungen würde, weniger und langsamer zu lernen, als es seiner Begabung entspricht.
Ja, das hamburgische Schulwesen muss dringend verbessert werden. Durch kindgerechte, aber verbindliche Sprachstandstests schon für Drei- oder Vierjährige (Fachleute mögen darüber entscheiden); durch täglichen spielerischen Deutschunterricht bis zur Einschulung, wenn nötig, damit alle Erstklässler vom ersten Schultag an mit Erfolg am Unterricht teilnehmen können. Vermutlich durch unterschiedliche Lehrerzuweisung und Klassenfrequenzen in Nienstedten und auf der Veddel (um zwei Beispiele zu nennen). Nicht zuletzt durch aufsuchende Sozialarbeit der Schule gegenüber solchen Eltern, die den Bildungschancen ihrer Kinder unverantwortlich im Wege stehen, sei es aus sozialen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen.
Dies sind die wirklichen Übelstände, bei denen angesetzt werden muss, insbesondere um diejenigen Schülerinnen und Schüler abzuholen und voranzubringen, die heute ohne Hauptschulabschluss die Schule verlassen, ganz gleich welcher Herkunft. Ein Skandal, den wir ihnen nicht antun und uns nicht leisten dürfen. Dafür braucht man viel und anderes Personal, dafür wäre mehr Geld gut angelegt. Gäbe es Opposition im Parlament statt "Schulfrieden" - eine sofortige öffentliche Anhörung des Bildungsforschers Jürgen Baumert wäre für die Bürgerschaft zwingend gewesen, nachdem dieser im "Spiegel" erklärt hat, "belastbare empirische Evidenz für die Wirkungen einer zweijährigen Verlängerung der Grundschule kenne ich nicht". Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, einer der kompetentesten Bildungsforscher Deutschlands, erklärt: "In Hamburg wird für mich ein völlig unnötiger bildungspolitischer Streit ausgetragen." Die Verantwortlichen hören angestrengt weg, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
"Schulfrieden" kontra Volksentscheid ist zur Machtprobe zwischen dem Rathaus und dem Volk geworden. Darauf ruht kein Segen, wie selbst der große Max Brauer - unangefochtener Bürgermeister des Wiederaufstiegs aus Ruinen seit 1946 - erfahren musste, als er und Hamburgs SPD 1953 für die sechsjährige Primarschule die Wahl verloren. Dagegen war die CDU mit der vierjährigen Grundschule angetreten und führte sie nach der Wahl ein. Heute schafft sie sie auf schwarz-grünem Koalitionsaltar ab, untergräbt die Gymnasien (deren Rettung sie im Wahlkampf versprochen hatte) und läuft Gefahr, die nächste Wahl zu verlieren - späte Ironie der Hamburger Geschichte. Die bildungsbürgerliche Kernwählerschicht der CDU wird es nicht vergessen. Aber das ist 2012. Am 18. Juli entscheidet das Volk. Es hat die Chance, die Politik zu neuem Nachdenken zu zwingen. Dann könnte ein Schulfrieden wachsen, der den Namen verdient. Und der allen Kindern wirklich nützt.