Henning Voscherau: Den sehr begabten Schülern wird nachhaltig geschadet
Drei Hamburger Bürgermeister, "eine Meinung" - so berichtete das Abendblatt -, werben im Hamburger Rathaus, das doch allen gehört, auch den Gegnern, für die Schulreform des schwarz-grünen Senats. Gleichzeitig untersagt die - stark von Parteien dominierte - Medienanstalt Werbespots der Hamburger Volksinitiative "Wir wollen lernen" in privaten Sendern. Zweierlei Maß in Angelegenheiten der Demokratie, in denen zweierlei Maß von Verfassung wegen nicht erlaubt ist!
Schlagender lässt sich die Entmündigung des Volkes durch die - im Grundgesetz so nicht angelegte - Parteienherrschaft nicht auf den Punkt bringen. Haben die Bürgerinnen und Bürger die Gelegenheit erstritten, selbst zu entscheiden - flugs schließen die Parlamentsparteien "Schulfrieden" und versuchen gemeinsam, dem Volk seinen Entscheid aus der Hand zu schlagen. Ein Etikettenschwindel, da doch in der Bevölkerung das Gegenteil von Frieden herrscht. Im Ringen um die Mehrheit wird zusätzlich Öl ins Feuer gegossen, teils mit klassenkämpferischen Parolen, teils mit abwertenden Unterstellungen gegen die Motive solcher Eltern und Großeltern, die sich eine eigene Meinung herausnehmen. Ebenso wie Schule legitimiert sich Politik ausschließlich in dienender Funktion. Lehrer sind für die Schüler da, nicht umgekehrt. Politiker sind für die Bürger da, nicht umgekehrt. Lasst die Bürgerinnen und Bürger frei von Parolen und Manipulation selbst entscheiden, welche Schule es geben soll.
Die sechsjährige Primarschule bringt erhebliche Reibungsverluste mit sich und kostet über viele Jahre sehr viel Geld - für Neubauten, Umbauten und auch für Lehrerstellen, sonst wird sie scheitern. Herr von Beust und Frau Goetsch wissen das und versprechen, die notwendigen Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen. Wirtschaftliche und politische Erfahrung lehrt hingegen: Die aktuelle Haushaltskrise ist schon da, die nächste folgt bestimmt, Rettungspakete und Schuldenbremse schauen um die Ecke. Wer wollte auf solche finanziellen Versprechungen ein Schulwesen bauen, insbesondere nachdem in den fetten Jahren seit 2001 unglaublich viel Geld für Prestigeprojekte verbrannt worden ist? Wenn aber die Mehrbedarfe der Primarschule nicht auf Dauer auskömmlich durchfinanziert werden könnten - wer wird die Folgen ausbaden? Wieder 20 Schülerjahrgänge wie jene, die infolge des antiautoritären Irrtums einer ganzen Lehrer- und Elterngeneration vielfach nicht hinreichend lesen, schreiben und rechnen für ihren Beruf lernten?
Vier oder sechs Jahre gemeinsamen Lernens können für keine Seite ein Dogma sein - weder dafür noch dagegen. Gute Schule kann und muss in vier und in sechs gemeinsamen Jahren gelingen. Im Mittelpunkt aller Reformanstrengungen hat jedoch zu stehen "mehr und besser lernen". Dagegen ist "länger gemeinsam lernen" nur dann verantwortbar, wenn es dazu nicht in Widerspruch gerät. Es gibt Kinder, die mit sechs Jahren gemeinsamen Lernens besser vorankommen. Gut so. Für viele wird im Ergebnis ganz gleich sein, ob vier oder sechs. Gut so. Aber was macht die Schulreform mit der Minderheit sehr begabter Schüler - ob Pastorenkind oder Kind afghanischer Flüchtlinge -, denen durch zwei weitere Jahre zu langsamen Lernens, durch "nervende" Wiederholung, Langeweile, Unterforderung, Abschalten nachhaltig geschadet würde? Dazu hat der Staat das Recht nicht. Ist denn nicht wahr, was der "Spiegel" in der vorigen Woche schrieb, dass Geist und Expertise, Deutschlands wichtigste Ressource, knapp geworden ist? Leben wir nicht mehr von unserem Vorsprung?
Man komme mir nicht mit dem Patentrezept der Binnendifferenzierung. Damit waren schon die sechszügige Gesamtschule, eine anonyme Schulmaschine, dann die vierzügige, die drei- und schließlich die zweizügige Gesamtschule nur eingeschränkt erfolgreich, an unterschiedlichen Standorten und aus unterschiedlichen Gründen. Was spricht dafür, dass Binnendifferenzierung in der Primarschule gelingt? "Jedes Kind ist anders" plakatiert einsam die FDP, und das wird ja nicht falscher, nur weil sie es ist, die das plakatiert. Die inhaltliche Bringschuld von Senat und Bürgerschaft zu der Kernfrage, warum Kinder (und gezwungenermaßen alle) in sechs gemeinsamen Jahren mehr und besser lernen als in vier, geht im Getöse der aktuellen Machtprobe unter. Als Maßstäbe sind aber nur erlaubt: Welche Schule ist die beste für alle; welche Schule ist die beste für jede/n. Auf beides kommt es an, ganz dasselbe ist es nicht. Niemals darf das Staatsziel bestmöglicher Bildung für alle in Gegensatz gebracht werden zu dem individuellen Recht jedes Kindes auf seine bestmögliche Bildung. Die Pflicht, beides gleichermaßen zu gewährleisten, trifft aber den Staat, nicht den Mitschüler, wenn dieser deshalb staatlich gezwungen würde, weniger und langsamer zu lernen, als es seiner Begabung entspricht.
Ja, das hamburgische Schulwesen muss dringend verbessert werden. Durch kindgerechte, aber verbindliche Sprachstandstests schon für Drei- oder Vierjährige (Fachleute mögen darüber entscheiden); durch täglichen spielerischen Deutschunterricht bis zur Einschulung, wenn nötig, damit alle Erstklässler vom ersten Schultag an mit Erfolg am Unterricht teilnehmen können. Vermutlich durch unterschiedliche Lehrerzuweisung und Klassenfrequenzen in Nienstedten und auf der Veddel (um zwei Beispiele zu nennen). Nicht zuletzt durch aufsuchende Sozialarbeit der Schule gegenüber solchen Eltern, die den Bildungschancen ihrer Kinder unverantwortlich im Wege stehen, sei es aus sozialen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen.
Dies sind die wirklichen Übelstände, bei denen angesetzt werden muss, insbesondere um diejenigen Schülerinnen und Schüler abzuholen und voranzubringen, die heute ohne Hauptschulabschluss die Schule verlassen, ganz gleich welcher Herkunft. Ein Skandal, den wir ihnen nicht antun und uns nicht leisten dürfen. Dafür braucht man viel und anderes Personal, dafür wäre mehr Geld gut angelegt. Gäbe es Opposition im Parlament statt "Schulfrieden" - eine sofortige öffentliche Anhörung des Bildungsforschers Jürgen Baumert wäre für die Bürgerschaft zwingend gewesen, nachdem dieser im "Spiegel" erklärt hat, "belastbare empirische Evidenz für die Wirkungen einer zweijährigen Verlängerung der Grundschule kenne ich nicht". Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, einer der kompetentesten Bildungsforscher Deutschlands, erklärt: "In Hamburg wird für mich ein völlig unnötiger bildungspolitischer Streit ausgetragen." Die Verantwortlichen hören angestrengt weg, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
"Schulfrieden" kontra Volksentscheid ist zur Machtprobe zwischen dem Rathaus und dem Volk geworden. Darauf ruht kein Segen, wie selbst der große Max Brauer - unangefochtener Bürgermeister des Wiederaufstiegs aus Ruinen seit 1946 - erfahren musste, als er und Hamburgs SPD 1953 für die sechsjährige Primarschule die Wahl verloren. Dagegen war die CDU mit der vierjährigen Grundschule angetreten und führte sie nach der Wahl ein. Heute schafft sie sie auf schwarz-grünem Koalitionsaltar ab, untergräbt die Gymnasien (deren Rettung sie im Wahlkampf versprochen hatte) und läuft Gefahr, die nächste Wahl zu verlieren - späte Ironie der Hamburger Geschichte. Die bildungsbürgerliche Kernwählerschicht der CDU wird es nicht vergessen. Aber das ist 2012. Am 18. Juli entscheidet das Volk. Es hat die Chance, die Politik zu neuem Nachdenken zu zwingen. Dann könnte ein Schulfrieden wachsen, der den Namen verdient. Und der allen Kindern wirklich nützt.