Mit konspirativen Wohnungen und Anschlägen war Hamburg Stützpunkt politisch motivierter Mörder. Sprengsätze detonierten auch im Axel Springer Verlag. Noch mehr Informationen zum 60. Geburtstag des Abendblattes

Mit konspirativen Wohnungen und Anschlägen war Hamburg Stützpunkt politisch motivierter Mörder. Sprengsätze detonierten auch im Axel Springer Verlag.

Die junge blonde Frau, die sich in der Boutique am Jungfernstieg einen Pullover kaufen will, wirkt sehr nervös. Nur ungern zieht sie zur Anprobe die Lederjacke aus. Eine Verkäuferin legt das Kleidungsstück zur Seite und spürt in der Tasche einen Revolver. Ihre Chefin ruft die Polizei. Zwei Beamte eilen in den Laden. Die überraschte Frau wehrt sich nach Kräften, wird aber überwältigt. Sie hat noch eine zweite Schusswaffe bei sich. Es ist die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin.

Die Festnahme vom 7. Juni 1972 enthüllt einer erschrockenen Öffentlichkeit: Das "rote Hamburg" ist zum wichtigsten Stützpunkt politisch motivierter Mörder geworden, mit konspirativen Wohnungen, Anschlägen, Schießereien.

Im 19. Jahrhundert preist August Bebel die "Hauptstadt des Sozialismus" als "Waffenschmiede des deutschen Proletariats". 1923 ist die Stadt Schauplatz des "Hamburger Aufstands" kommunistischer Arbeiter unter Ernst Thälmann gegen die Reichswehr, später das durch den "Altonaer Blutsonntag" von 1931 geadelte Widerstandszentrum gegen Hitler.

Jetzt, ein Vierteljahrhundert nach Krieg, Bombenterror und Nazi-Barbarei, haben die Hamburger ihre Heimat und ihr Leben wieder in Ordnung gebracht. Doch Bundeskanzler Ludwig Erhards Motto "Wohlstand für alle" reicht bald immer mehr Bürgern als Daseinszweck und Lebensinhalt nicht mehr aus: Sie beseelt ein Gerechtigkeitssinn, der sich über die Ausbeutung der sozial Schwachen, der Dritten Welt und der Natur ebenso empört wie über die ihrer Meinung nach noch immer ausstehende Abrechnung mit den Tätern des Tausendjährigen Reiches.

Aus Ärger und Ahnungslosigkeit gedeihen gefährliche Sympathien: In einer Umfrage antwortet immerhin jeder Zehnte, er sei bereit, gesuchte Terroristen zu verstecken. Die Unterstützung schwindet erst, als die RAF-Anschläge immer brutaler werden - auch und vor allem in Hamburg:

Im Juli 1971 durchbricht ein blauer BMW eine Sperre auf der Stresemannstraße. Nach Verfolgungsjagd und Schusswechsel mit der Polizei am Bahrenfelder Kirchenweg wird die Terroristin Petra Schelm tödlich getroffen.

Im Oktober 1971 erschießt ein RAF-Terrorist vor der Wohnung eines prominenten Liedermachers am Poppenbütteler Heegbarg einen Zivilfahnder.

Im März 1972 stürmt die Polizei eine RAF-Fälscherwerkstatt an der Heimhuder Straße in Rotherbaum, im Kugelhagel stirbt ein Beamter.

Im Mai detonieren drei RAF-Sprengsätze im Axel Springer Verlag an der Kaiser-Wilhelm-Straße, in dem auch das Hamburger Abendblatt erscheint; 17 Menschen werden verletzt.

1974 ruft Rudi Dutschke beim Begräbnis des an den Folgen eines Hungerstreiks verstorbenen RAF-Mitglieds Meins auf dem Friedhof Stellingen vor 5000 Menschen mit erhobener Faust: "Holger, der Kampf geht weiter!" Im Januar 1978 schießt die als Rezeptfälscherin gestellte Terroristin Christine Kuby in der Glocken-Apotheke am Winterhuder Markt auf zwei Polizisten und wird selbst verletzt. Die 21-Jährige überlebt und wohnt seit ihrer Haftentlassung 1995 in Hamburg.

Dreißig Jahre später scheint der Terrorismus der Siebzigerjahre nur noch ein ferner Spuk. Die Stadt hat damals rasch den Weg in eine gerechte Gesellschaftsordnung gefunden. Eine boomende Wirtschaft schenkt Hamburg neue Wahrzeichen des Fortschritts: Die City Nord wird zum viel bestaunten Muster moderner Stadtplanung. Die Alsterschwimmhalle geht als Architekturperle der Elbphilharmonie voraus. Die Köhlbrandbrücke spannt sich als Golden Gate einer neuen Zeit über den Hafen. Immer größere Containerschiffe fahren auf, immer mehr Autos unter der Elbe.

Die Haspa wird Deutschlands größte Sparkasse, die HEW bauten in Stade Deutschlands erstes kommerzielles Atomkraftwerk, die Bahn in Maschen Europas größten Rangierbahnhof. Hamburgs großer SPD-Bürgermeister Herbert Weichmann legt den Grundstein für das KongreßZentrum Hamburg mit dem 118 Meter hohen Plaza-Turm. Als klar wird, dass die Abkürzung "KZ Hamburg" lauten würde, hilft die englische Schreibweise Congress Centrum zum so modernen wie unverfänglichen "CCH".

Mitte der 70er enden die fetten Jahre. Immer mehr Hamburger ziehen fort und zahlen ihre Steuern im Speckgürtel der Nachbarländer. Der Senat häuft ein Milliardendefizit an. Sparzwänge treffen Schüler, Beamte und die fünfzehn Polizeipferde. Zugleich wachsen Ängste über die Antworten der Natur auf das ausufernde menschliche Treiben.

1976 bricht eine Sturmflut mit dem höchsten Wasserstand seit Beginn der Aufzeichnungen an der Elbe 25 Deiche, 16 Menschen sterben. 1979 zerstört die schlimmste Schneekatastrophe aller Zeiten den letzten Glauben an die Allmacht der Technik, Dörfer sind tagelang abgeschnitten, mit knapp 21 Grad minus wird es so kalt wie zuletzt im Krieg.

Hamburgs amphibische Lage, abhängig von Elbe und Meer, fördert ein Klima des Zweifels an den Segnungen einer naturverschlingenden Zivilisation. Zugleich bewegt Furcht vor vermeintlich unbeherrschbaren Energien immer mehr Gemüter. 1976 brechen von Hamburg Tausende Demonstranten auf, um den Bau des Atommeilers Brokdorf zu stoppen. Die lächelnde Sonne mit dem Verdikt "Atomkraft? Nein Danke" wird zum Symbol einer Protestbewegung, deren politische Hintergründe erst später offenbar werden. Die ersten Demos sind Vorboten der schweren Auseinandersetzungen Anfang der Achtzigerjahre, als 100 000 Menschen zur größten Anti-Kernkraft-Kundgebung Deutschlands in die Wilster Marsch strömen und den wackeren SPD-Bürgermeister Hans-Ulrich Klose letztlich zum Rücktrittbewegen.