Gegen die Härte der Nachkriegszeit setzt Verleger Axel Springer das Motto seines neuen Produkts: Seid nett zueinander.

In der Konzernzentrale im Flakbunker am Heiligengeistfeld riecht es nach Heu und Kräutertee. In den zwei Meter dicken Beton sind ein paar Fenster gesprengt. Zum Büro führen ein Mannschafts- und ein Munitionsaufzug. Bei Stromausfall stolpern Besucher mit Kerzen die Holztreppe hinauf. Das Auto des Verlagsleiters fährt mit Holzgas. Die Schreibmaschinen sind für drei Mark am Tag gemietet und werden, um Geld zu sparen, übers Wochenende zurückgegeben.

"In diesem Bunker entstanden die Pläne für künftige Tageszeitungen", schreibt Biograf Claus Jacobi über Axel Springers erste Schritte als Verleger im April 1946. Zweieinhalb Jahre später ist das "Hamburger Abendblatt" auf dem Markt. Es ist die fünfte Tageszeitung der Stadt, aber die erste wirklich erfolgreiche.

60 Jahre später zeigt die Ausstellung "Hamburger Abendblatt - Eine Stadt und ihre Zeitung" in der Springer-Passage, berichten Bilder auf der Internetseite www.abendblatt.de, erzählt die Abendblatt-DVD "Hamburger Filmschätze" und schildert in den kommenden zwei Wochen eine siebenteilige Abendblatt-Serie, was die Hamburger mit ihrer liebsten Zeitung verbindet: ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das in schlechten Zeiten wächst und in guten Jahren nicht schwindet.

"Die Erfahrung lehrt, dass man zur Demokratie nicht nur unmittelbar auf rein politischem Wege gelangt, sondern mittelbar dadurch, dass man die Menschen menschlich anspricht und in ihrer privaten Sphäre zu verstehen sucht", hat Springer in seinen Lizenzantrag für das Abendblatt geschrieben. "Wirkliches und dauerndes Vertrauen, das ist meine Überzeugung, hat nur eine Zeitung, die Eingang in die Familie findet."

Und: "Das Vertrauen des Lesers wird vor allem durch Nachrichten erworben, die ihn nahe angehen. Die kleine Nachricht, sorgfältig gewählt und gepflegt, gibt ein wahrheitsgetreues Lebensbild, das auch ohne besondere Absichten Maß und Wert sichtbar macht und humanitäre Haltung fördert."

Das wahrheitsgetreue Lebensbild der Stadt ist düster: Hamburg liegt nach 213 Luftangriffen in Trümmern. Viele Menschen hungern und frieren. Kriegerwitwen tauschen ihre Eheringe gegen Brot für ihre Kinder.

Gegen die Härte setzt Axel Springer das Herz. "Seid nett zueinander" lautet das Motto, das er seinem Hamburger Abendblatt schenkt. Seid nett zu den Trümmerfrauen, die Millionen Steine klopfen. Seid nett zu den Kriegsversehrten, die an Krücken durch den Schnee humpeln. Seid nett zu den Waisen, denen der Suchdienst des Roten Kreuzes die verschollenen Eltern nicht zurückgeben kann. Seid nett zu den vergewaltigten Flüchtlingsmädchen aus den verlorenen Ostgebieten. Und seid nett zu den Überlebenden der Konzentrationslager.

Das Abendblatt folgt den Forderungen der Freiheit: Es ist nicht nur demokratisch, sondern auch unabhängig und überparteilich. Aber es erfüllt auch die Sehnsucht der Menschen nach einer dauerhafteren Wärme, als sie beim Verbrennen der Zeitung im Kanonenofen entsteht: nach Wärme für die Seele.

Schon die erste Nummer enthält alle Zutaten, die den Erfolg begründen:

Auf der ersten Seite steht das von dem Ex-Luftwaffenoffizier Wolfgang Köhler erfundene Kurzporträt "Menschlich gesehen" - bis heute ein Markenzeichen. Auf der dritten Seite beginnt die Lokalausgabe mit "Liebeserklärungen an Hamburg" und der Frage: "Darf eine Anwältin geschminkt vor Gericht erscheinen?" Auf Seite 4 offerieren Anzeigen einen "Frack, fast neu" und einen "Persianer, erstklassig". Auf Seite 6 beginnt der Roman "Das geht nicht gut - Manuela" aus der Feder Walter von Hollanders, des "großen Seelenmasseurs" (Jacobi) - einer der ersten Sätze heißt: "Die Wahrheit ist langweilig und stimmt nie."

Auf Seite 8 folgt die Erfolgsserie "Hitler, Himmler und die Sterne".

Die Ereignisse der Zeit spiegeln sich im Abendblatt auf ganz eigene, unverwechselbare Weise: keine lieblos abgedruckten Agenturmeldungen, keine Parteipamphlete, kein Verlautbarungsdeutsch. Das Abendblatt schreibt in der Sprache des Lesers: über das erste Fußballtoto und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, über die Demontage im Hafen und den ersten Otto-Katalog mit 28 Paar Schuhen.

"Zu einer Zeitung dieses Stils gehört es auch, dass das Bedürfnis nach Entspannung und Erbauung befriedigt wird" - auch das steht in Springers Lizenzantrag. Im Unterhaltungsteil solle der Leser bewusst einmal ausruhen, "um ihn damit auch aufnahmefähiger für politische Fragen zu machen". In der Glosse "Von wegen Spickaal" erzählt Abendblatt-Autor Walter Rothenburg von einem hungrigen Haufen, der über die Preise eines Fischhändlers schimpft, bis "die sonore Stimme eines echten, gemütlichen alten Hamburgers ertönt": "Dat Woter is woll dürer worden!"

"Für die Leser wurden Aktionen gestartet, zum Beispiel das Verteilen von Blumen an U-Bahnen und auf der Straße zum Frühlingsanfang, weiße Hochzeitskutschen wurden bestellt und vieles andere mehr", schrieb Axel Springers Witwe Friede Springer hier vor zehn Jahren zum 50-Jährigen. "Das alles geschah im Sinn des Slogans 'Seid nett zueinander'. In der Zeit des Mangels, der Existenzängste, der zerstörten Moral kam dieser Spruch gut an."

Er verlor seinen Glanz aber auch nicht in der Zeit des Wirtschafswunders, der Fress- oder der Reisewelle der 50er-Jahre, von denen diese Serie in der zweiten Folge am Montag berichten wird.