Nach der Not wächst die Zuversicht. Mit einer pfiffigen Idee trifft das Abendblatt den Nerv der Zeit.

Der unauffällige Herr mit dem Hut hat offenbar zu viel Geld: Mal verliert er auf der Straße Münzen, dann kreuzt er plötzlich in einem Geschäft auf und zahlt für einen verblüfften Kunden die Rechnung. Bald ist der wundersame Wohltäter bekannt wie ein bunter Hund. Es hilft nicht, dass er sich als Jäger, Hadag-Mitarbeiter, Eisverkäufer, mit Bart oder Perücke tarnt: "Herr Lombard!", rufen die Hamburger schon von Weitem, "Guten Tag! Guten Tag!"

Die Münzen sind Abendblatt-Taler, Herr Lombard ist der Abendblatt-Volontär Klaus Losch, und "Guten Tag" ist das Losungswort der ersten großen Abendblatt-Aktion nach dem Krieg: Wer dem jungen Mann dabei auch noch auf die Schulter klopft, bekommt einen Hundert-Mark-Schein. Bargeld ist die beste Werbeidee der frühen 50er-Jahre: Seit der Währungsreform 1948 füllt die neue D-Mark Schaufenster und Lohntüten, nach Jahren bitterster Not spüren die Hamburger neues Vertrauen in die Zukunft, aber auch neue Begehrlichkeiten. 100 DM sind ein hübsches Sümmchen, für 50 Mark kann man eine Zweizimmerwohnung mieten. Der Wiederaufbau verbraucht Kalorien, also wird kräftig gefuttert - erst, weil die Arbeit so anstrengend ist, dann, weil es plötzlich so viele gute Sachen gibt. Kein Körperteil zeigt die Segnungen des Jahrzehnts deutlicher als der Bauch. In "Hamburg - Eine Großstadt nach dem Dritten Reich" schreibt der Historiker Axel Schildt: "Während bis zum 1. Mai 1950 noch die letzten Lebensmittelkarten in Gebrauch waren, die sprichwörtlich schlechte Zeit, in der auf die normale Karte nicht mehr als 1100 bis 1500 Kalorien ausgegeben werden konnten, erst zwei Jahre zurücklag und die Schulärzte bei vielen Kindern noch Unterernährung registrieren mussten, wurde 1960 in den Zeitungen über medizinische Gefahren der Fresswelle informiert. Für Jugendliche und Erwachsene wurden Hula-Hoop-Reifen empfohlen, um sich den Speck um die Hüften abzutrainieren."

Neu sind Mode, Musik und Massenmotorisierung: Die Stadt macht mobil. In den Privatfilmen, die das Abendblatt für seine DVD-Edition "Hamburger Filmschätze" bei Lesern sammelte, knattern jede Menge junge Männer auf Mopeds durchs Bild. Für die Jüngsten stiftet das Abendblatt ein Seifenkistenrennen der Superlative.

Der Spaß belohnt für den Schweiß. 2830 Wracks haben den Hafen stillgelegt. "Was sich dem Auge bot, kam mir wie ein monströser Friedhof vor", erinnert sich Siegfried Lenz, "zerschmetterte Kaimauern, abgesoffene Docks, bizarr verrenkte Werften, zerrissen von der Wucht der Explosionen, wie in endgültiger Trauer geknickte Kranhälse und überall die aus dem Wasser ragenden Schiffe". Die Bergungsarbeit bringt einen Berufsstand ins Brot, dem Lenz 1957 seinen dritten Roman "Der Mann im Strom" widmet: den Taucher. Hans Albers spielt ihn 1958, zwei Jahre vor seinem Tod.

250 000 Wohnungen, 3500 Fabriken, Betriebe und Kontore, 277 Schulen, 58 Kirchen und 24 Krankenhäuser liegen in Trümmern. Der Schutt füllt Hamburgs größte Kiesgrube; heute wächst auf ihm der Öjendorfer Park. Der Hamburger Wirtschaftsprofessor Karl Schiller prophezeit, der Wiederaufbau werde bis in die 80er-Jahre dauern.

Doch 1953 lockt ein neuer Alsterpavillon zum Jungfernstieg, schon 1956 stehen die zwölf Grindelhochhäuser, hat Axel Springer sein 13-stöckiges Verlagshaus zwischen Kaiser-Wilhelm-Straße und Caffamacherreihe geklemmt. In der City planen Architekten erste Glaspaläste im kühlen Funktionsstil der Moderne, am Hafen rekonstruieren andere liebevoll die kaiserzeitliche Backsteingotik der zur Hälfte zerstörten Speicherstadt.

Kaum hat sich die Stadt wieder schön gemacht, zieht es die Hamburger auch schon in die Ferne. In der Washington-Bar klampft Freddy Quinn "Einmal in Tampico, einmal nur möchte ich dort sein"; seine Fans fahren lieber ans Mittelmeer. "Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen", lautet das Wort, das Axel Springer im Werk des Dichters Gorch Fock für sich und sein Haus entdeckt. Schneller als das geteilte Berlin wird Hamburg wieder Weltstadt. Große Politiker stehen Pate: Der SPD-Bürgermeister Max Brauer enteignet Gärten an der Außenalster, um Hamburg seinen schönsten Park zu schenken. Der CDU-Bürgermeister Kurt Sieveking lüftet mit seiner "Politik der Elbe" für die Schifffahrt ein Stückchen den Eisernen Vorhang.

Dem Verkehr droht bald der Infarkt. Die Ost-West-Straße soll 1952 als Bypass entlasten und missrät zur Schneise, die den Hafen wie mit einem Axthieb von der City trennt. Es ist die Zeit, in der übermächtige Verkehrsplaner auch die schönsten Alleen abholzen, weil dort zu viele Raser gegen Bäume brummen. Unvergessen: Weihnachten 1952 spielt Peter Frankenfeld am ersten deutschen Fernsehabend "Eine nette Bescherung". 1953 tauft Aristoteles Onassis an den Howaldtswerken den größten Tanker der Welt. 1954 kickt Uwe Seeler mit 17 Jahren für Deutschland.

1955 zieht Gustaf Gründgens ins Deutsche Schauspielhaus ein. Den generösen Herrn mit dem Hut dagegen ereilt das typische Schicksal der Zeitungsgröße, irgendwann wird er nicht mehr gedruckt. Lombarddarsteller Losch aber arbeitet noch lange im Journalisten-Verband und betreut viele Pressebälle, bis 1993 im Abendblatt seine Todesanzeige erscheint.


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