Als die Gesellschaft Ende der 60er auseinanderdriftet, behalten nur wenige Institutionen Bindungskraft: Eine davon ist das Abendblatt. Mehr zum 60. Geburtstag des Abendblatts unter www.abendblatt.de/serie-60

"Gischt sprühte aus seinen Nüstern; er senkte den gewaltigen Kopf und jagte wütend und suchend übers Wasser nach Süden", schildert der Heimatdichter Albrecht Janssen 1922 in seiner Erzählung "Der Deichgraf" den gefürchteten "Waterkerl". Grundseen steilen auf; "im Tosen und Toben" hält der Unhold der friesischen Sagen "Heerschau über die vorbeiflutenden Wellenlegionen".

40 Jahre später bricht die schlimmste Sturmflut der Neuzeit nicht "brüllend wie ein Stier" über Hamburg herein, sondern schleicht sich in der Nacht vom 16. zum 17. Februar mit der Schlangentücke rasch, aber leise steigender Wasserstände an. Und der am schlimmsten betroffene Stadtteil Wilhelmsburg ist kein märchenhaftes Rungholt oder Vineta, das für die Hybris des Reichtums büßt, sondern die klamme Heimat kleiner Leute, von denen viele am Freitagabend feuchtfröhlich gefeiert haben und, im Schlaf überrascht, in ihren Kellerwohnungen ertrinken.

"Katastrophenalarm von Cuxhaven bis Hamburg", schlagzeilt das Abendblatt. Reporter Egbert A. Hoffmann: "An 60 Stellen sind die Deiche aufgerissen, ein Fünftel des Stadtgebiets steht unter Wasser. Das ist die hundertfache Ausdehnung der Außenalster. 315 Bürger sind ertrunken oder erschlagen von ihren zusammenbrechenden Häusern. Mehr als 40 000 Menschen sind obdachlos, 25 000 von den Wassermassen eingeschlossen. Viele Tote findet man niemals, die ablaufende Flut hat sie seewärts gerissen."

Fotos der Ausstellung "Hamburger Abendblatt - Eine Zeitung und ihre Stadt" in der Springer-Passage und private Aufnahmen der Abendblatt-DVD-Box "Hamburger Filmschätze" zeigen die Katastrophe in bewegenden Bildern. Das Unheil überfällt eine blühende Metropole in glücklicher Zeit: Die Wunden des Krieges sind fast verheilt, die Wirtschaft brummt, so gut wie jeder hat Arbeit, die Löhne steigen steil, die Deutschen sind wieder wer und können sich auch fix was leisten. Hamburgs Stadtentwickler zeichnen neue Zentren wie die City Nord, neue Hafenanlagen, neue Bahnlinien und eine Stadtautobahn an der Isebek mit Tunnel unter der Außenalster. 1950 planten sie für 1,7 Millionen Einwohner, 1960 sagen sie schon 2,2 Millionen voraus.

In Wandsbek macht Gyula Trebitsch sein Studio Hamburg zu einem norddeutschen Hollywood. Deutscher Ring und Unilever stellen Glastürme in die Neustadt. 1968 postiert sich der "Telemichel" mitten ins Panorama. Die Neue Heimat will St. Georg mit einem 19 Hektar großen "Bebauungskranz" aus fünf bis zu 200 Meter hohen Wohn-Wolkenkratzern für 20 000 Bewohner zum Alster-Manhattan machen. Es kommt anders. Die Sturmflut steckt der Stadt noch viele Jahre in den Knochen, statt höherer Häuser baut sie erst mal höhere Deiche. Die Pille knickt die Geburtenkurve und kippt die Alterspyramide um. Ein typisch hamburgischer, pragmatischer Politikstil, beispielhaft exekutiert von dem späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt, streicht die Utopien ersatzlos. Als Krisenmanager der Sturmflutkatastrophe zeigt der Ex-Oberleutnant, wie wenig kluge Worte wert sind, wenn sofort gehandelt werden muss: Rücksichtslos macht er Zuständigkeiten, Vorschriften und Verwaltungsgrenzen zur Nebensache.

Die Lebensfreude der Jugend sucht sich Ventile. Die Beatles starten auf St. Pauli ihre Weltkarriere. Die Rolling Stones machen 1965 die Ernst-Merck-Halle zum Hexenkessel, 2000 Fans prügeln sich mit 700 Polizisten. Zwei Jahre später wird die natürliche Unruhe des Erwachsenwerdens politisch zum Zorn auf Nachkriegskompromisse und Väterschuld umfunktioniert. Krawalle um einen Staatsbesuch des Schah von Persien in Berlin lösen die Studentenrevolte aus, nach James Dean wird Rudi Dutschke, nach Albert Schweitzer Che Guevara und statt Jesus Mao zum Idol. An Hamburgs Universität höhnt das erste Plakat "Unter den Talaren Muff aus tausend Jahren". Ein Ordinarius wünscht die Protestler ins KZ und wird suspendiert.

Als die Gesellschaft auseinanderdriftet, behalten nur wenige Institutionen Bindungskraft. Eine davon ist Hamburgs populärste Zeitung. Sie lässt sich von niemandem vereinnahmen, auch nicht von Axel Springer, der seine liebste Schöpfung zuweilen in zärtlichem Tadel "mein kleines kommunistisches Abendblatt" nennt. Der Spaß ist vorbei, als AStA-Führer auf der Moorweide 2000 Anhänger zum Sturm auf Springers Verlagshaus mobilisieren. Nach Ansicht des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes treffe "Bild" und "Welt" aufgrund einer "hemmungslosen Hetzkampagne" eine Mitschuld am Mordversuch an Dutschke tags zuvor in Berlin. Erst nach der Wende offenbaren Stasi-Dokumente, wer und was so alles hinter den Studentenprotesten steckte - und hinter mancher Kampagne führender Medien, die Hamburg zur Pressehauptstadt machen. 1965 entsteht der größte deutsche Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr. 1969 tippt "Stern"-Chefredakteur Henri Nannen mit "Spiegel"-Chef Rudolf Augstein eigenhändig Entwürfe für Willy Brandts Ostverträge in die Schreibmaschine. Im selben Jahr zieht der "Spiegel", seit der Affäre 1962 um angeblichen Landesverrat Augsteins "Sturmgeschütz der Demokratie" an den Hafen. Der Bauer-Verlag holt aus Köln die "Neue Revue" und treibt mit seinem Starautor Oswald Kolle eine andere, die sexuelle Revolution voran. In den 1968 gegründeten "St. Pauli Nachrichten" des späteren "Spiegel"-Chefredakteurs Stefan Aust gehen Sex und linke Politik eine besonders innige Verbindung ein. Vorboten einer neuen, ganz anderen Zeit sind, gleich nach der Mondlandung, die gärende Radikalisierung im antibürgerlichen Milieu, die erste Wirtschaftspleite um das Aluminium-Werk Reynolds und die ersten drei Drogentoten.


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