Hamburgs Firmen schneiden im Bundesvergleich schlecht ab. Bei Modekette H&M verkauft Gehörlose erfolgreich Dessous.
Hamburg. Sie macht ihren Job, schenkt den 30 bis 40 Kunden an jedem Tag ein Lächeln und liest ihnen ihre Wünsche von den Lippen ab. Manchmal entschuldigt sie sich höflich und gestenreich bei denen, die noch nicht gemerkt haben, dass sie nichts verstehen kann. Denn Silvia Harbeck wurde vor 45 Jahren hochgradig schwerhörig geboren. Trotzdem verkauft sie seit knapp zwei Monaten in der Wäscheabteilung von H&M in der Spitalerstraße. Sie zeigt Unterwäsche und achtet dabei auf den Augenkontakt mit dem Kunden. "Die Verständigung klappt trotz meines Handicaps meist gut", sagt sie mithilfe einer Gebärdendolmetscherin. "Viele Kunden bedanken sich nach dem Kauf dann herzlich bei mir."
Seit 2007 arbeitet die gelernte Bauzeichnerin und Mutter von zwei Kindern für die schwedische Modekette. Zuerst fünf Jahre lang im Lager der größten Hamburger Filiale, bis sie eine neue Herausforderung suchte und Anfang Februar in den Verkauf wechselte. "Sie macht eine fantastische Arbeit", sagt Filialleiterin Sandra Kielhorn.
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Harbeck hat eine Chance genutzt, die viele Behinderte in der Hansestadt gar nicht erst bekommen. Denn in Hamburg fehlen bei privaten Unternehmen noch immer Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap. Mit 3511 gemeldeten arbeitslosen Behinderten ist der Anteil von Februar zum März zwar leicht von fünf auf 4,9 Prozent aller Arbeitslosen gesunken. Doch die Zahl war selbst im Krisenjahr 2009 schon geringer und hat sich im Durchschnitt seit vier Jahren kaum verändert.
Das aber bedeutet, dass Hamburg bei der Beschäftigung von Behinderten im Vergleich zu anderen Bundesländern weit hinten liegt. So weisen nach den jüngsten Zahlen für 2009 nur Sachsen-Anhalt und Sachsen noch schlechtere Werte auf. Von den von der Arbeitsagentur gezählten Vollzeitstellen waren zuletzt nur 3,2 Prozent mit Behinderten besetzt. Dies dürfte sich, so heißt es bei der Arbeitsagentur, seitdem kaum verändert haben.
Dabei wird es für Firmen mit mehr als 20 Mitarbeitern teuer, wenn sie nicht mindestens die gesetzlich vorgeschriebenen fünf Prozent ihrer Stellen mit Behinderten besetzen. Die Ausgleichszahlungen können bei einer Quote von weniger als zwei Prozent mehr als 3000 Euro pro Kopf und Jahr erreichen. "Dennoch gibt es, wenn es um die Beschäftigung von Behinderten geht, immer noch Barrieren im Kopf", sagt Ingrid Körner, die Hamburger Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen.
Diese existieren bei H&M nicht mehr. "Wir haben seit 2009 den Anteil von fünf Prozent bundesweit stets überschritten. Die Metropolregion Hamburg mit 30 Filialen und 1300 Beschäftigten hat mit einer Quote von 6,23 Prozent für 2011 sogar eine Vorreiterstellung", sagt Frederike Lena Basala, die als H&M-Beauftragte bundesweit für die schwerbehinderten Mitarbeiter zuständig ist. Planmäßig hat das Unternehmen seit 2005 ein Netzwerk zur Arbeitsagentur und zu privaten und öffentlichen Fachdiensten für die Integration von Behinderten aufgebaut und sich vor allem auf Gehörlose konzentriert. "Inzwischen kommen aus diesem Bereich verstärkt Bewerber, die bei guter Qualifikation bevorzugt eingestellt werden", sagt Basala. Schließlich will H&M die hohe Quote, die zu einem der Unternehmensziele erklärt wurde, künftig halten.
"Wir haben eine vielfältige Gesellschaft mit vielen Nationalitäten, Menschen aus allen Altersgruppen und Behinderten. Das wollen wir auch in unserer Belegschaft abbilden", sagt die Ökonomin für Arbeitsrecht. Sie ist überzeugt: Auch andere Unternehmen können dem Kurs der Modekette folgen, sobald sie gezielt Kontakte zu Einrichtungen, Behindertengruppen und der Arbeitsagentur aufnehmen würden.
Dass dies in Hamburg noch nicht ausreichend geschieht, führt der Chef der Arbeitsagentur, Sönke Fock, darauf zurück, dass die Wirtschaft in der Hansestadt vor allem durch viele kleinere mittelständische Familienunternehmen geprägt ist. "Solchen Firmen fällt es häufig schwer, Arbeitsplätze für Behinderte bereitzustellen", sagt er. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sei es längst überfällig, neu nachzudenken. "Noch aber werden Behinderte bei der Personalsuche gar nicht erst in Betracht gezogen", sagt Senatskoordinatorin Körner. Ein Fehlurteil, wie sie meint. Denn bei spezifischen Kenntnissen für den Beruf würden Behinderte oftmals mindestens genauso abschneiden wie Nichtbehinderte. "Sie haben zudem den besonderen Ehrgeiz, besser zu sein als die Konkurrenten", davon ist Körner überzeugt.
Hilfen und Zuschüsse für Firmen, die Behinderten eine Chance geben wollen, gibt es reichlich. So wird etwa das als Ausgleichsabgabe eingenommene Geld vom Integrationsamt der Sozialbehörde für notwendige Umbauten am Arbeitsplatz bereitgestellt - wenn beispielsweise Rollstuhlfahrer eingestellt werden. Die Arbeitsagentur zahlt Eingliederungszuschüsse und übernimmt damit für einige Monate bis zu mehreren Jahren einen Teil des Lohns. Auch eine individuelle Förderung des Behinderten oder eine Arbeitsbegleitung kann vereinbart werden. Jetzt plant Fock für den 3. und 4. Mai eine Jobbörse in der Agentur, bei der Arbeitgeber Kontakt zu arbeitssuchenden Behinderten aufnehmen können.
"Firmen sollten ausprobieren, welche Jobs Behinderte erledigen können", rät Marco Höpner, Chef eines alteingesessenen Getränkeshops in Eimsbüttel. Er und seine Frau Martina machen seit Langem gute Erfahrungen mit zwei lernbehinderten Aushilfen. Kurt D., 30, arbeitet seit sechs Jahren in der Firma und hat einen unbefristeten Vertrag. Mike S., 27, ist noch in einer Fördermaßnahme, über die die Höpners einen Lohnzuschuss erhalten.
Bevor das Ehepaar Kurt D. einstellte, hatten sie mit bis zu 16 Aushilfen versucht, die Lieferungen und den Verkauf vor Ort abzuwickeln. "Das war schwer zu koordinieren, und die Leute waren oft unzuverlässig", erinnert sich Höpner. Das sind die beiden Behinderten, für deren Beschäftigung die Firma Ende Februar mit dem Hamburger Integrationspreis ausgezeichnet wurde, nicht. "Wir arbeiten wie in einer Familie zusammen", sagt Höpner. Für die beiden habe der Job eine andere Bedeutung als für Aushilfen. "Er ist ihr Leben."
Kein Wunder: Wenn Kurt D. und Mike S. die Getränkekisten im Lager aufstellen oder sie Kunden zum Auto bringen, erhalten sie eine Anerkennung, die sie ohne ihren Job wohl nicht bekommen würden. Bei dem Hamburger Getränkehändler sind sie wichtig. Denn sie machen ihren Job.