“Ich köpfe über ihn hinweg“ - 1970 erzielt Uwe Seeler eines der spektakulärsten Tore der WM. Neunter und letzter Teil der großen WM-Serie.
"Ich köpfe über ihn hinweg"
Am liebsten würde Uwe Seeler jetzt aufstehen, ein paar Schritte rückwärts laufen, dann mit einem Bein abspringen, hochschnellen, sich ins Kreuz fallen lassen, den Hals strecken und den Kopf verdrehen; wie damals vor 40 Jahren, als Karl-Heinz Schnellinger den Ball hoch in den Strafraum schlägt. Diesmal bleibt Seeler, 73, sitzen - lächelt und erzählt.
Es ist Sonntag, der 14. Juni 1970. León, Mexiko, Viertelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft. Deutschland gegen England. Anpfiff zwölf Uhr mittags. Das Thermometer zeigt 42 Grad Celsius im Schatten, den es im Stadion nicht gibt. Auf dem Platz dürfte es um die 55 Grad heiß sein. Die Engländer wollen ins Halbfinale, für die Deutschen ist es auch die Revanche für die 2:4-Endspielniederlage vor vier Jahren im Londoner Wembleystadion. Die Engländer sind zunächst die bessere Mannschaft, führen kurz nach der Halbzeit 2:0. Franz Beckenbauer gelingt in der 69. Minute der Anschlusstreffer. Das hält Trainer Alfred Ramsey, der erst später geadelt werden sollte, nicht davon ab, kurz danach Spielmacher Bobby Charlton auszuwechseln. "Ich wollte ihn schonen", wird Ramsey hinterher erklären. Doch ein nächstes Spiel wird es in Mexiko für ihn nicht geben.
Seeler sieht, dass Torwart Bonetti nur die kurze Ecke im Blick hat
Es läuft die 82. Minute. "Ich sehe, dass der Ball von Schnellinger lang in den Strafraum kommt, dass er sehr weit fliegt", berichtet Seeler, "ich muss ein paar Schritte rückwärts laufen, beobachte dabei, dass Bonetti die kurze Ecke im Blick hat, eine Bewegung in diese Richtung macht. Ich will deshalb ins linke, entfernte Eck köpfen, über ihn hinweg." Das gelingt in Perfektion. Vom Hinterkopf Seelers fliegt der Ball in hohem Bogen über den verdutzten englischen Torhüter zum 2:2 ins Netz. "So ein Tor kannst du nur machen, wenn du noch ein paar Locken auf dem Schädel hast", scherzt Seeler und zeigt auf seine kahlen Stellen. Es ist ein Jahrhunderttreffer, einer der spektakulärsten, der je bei einer WM erzielt wird. In der Verlängerung schießt Gerd Müller das 3:2. Deutschland jubelt. Zu Recht. Die Statistik sagt: 12:7 Ecken und 45:29 Torschüsse für Deutschland. "Die Engländer, das sah man ihnen an, waren Mitte der zweiten Halbzeit fix und fertig." Seeler nicht. Trotz seiner 33 Jahre. "Ich hatte in Mexiko zwar immer schon nach zehn Minuten eine knallrote Birne, aber laufen konnte ich wie ein junger Tiger." Genau das schätzt Helmut Schön, der Bundestrainer, an ihm.
1968 ist Seeler aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Chronische Rückenschmerzen plagen ihn. Er kann kaum trainieren. Für den HSV läuft er weiter auf. "Damals gab es noch keine Rasenheizungen. Wir haben auch bei Frost gespielt, die Böden fühlten sich an wie Beton. Ich bin ja ständig hochgesprungen. Bei der Landung ist mein Rückgrat jedes Mal zusammengestaucht worden. Meine Bandscheiben haben mir das nie verziehen."
Das Fußballspielen hat Seeler inzwischen aufgegeben, beim Golf lebt er jetzt seinen Ehrgeiz aus. Über einen verpatzten Abschlag kann er sich ärgern wie einst über eine vergebene Torchance. Und wer Seeler kennt, der weiß, dass er schimpfen kann wie ein Rohrspatz. "Das war einmal, ich bin doch viel ruhiger geworden", sagt er und grinst.
Irgendwann im Spätsommer 1969 ruft Sepp Herberger bei Seeler an. Herberger, der Weltmeister-Coach von 1954, hat 1964 den Job des Bundestrainers an seinen damaligen Assistenten Schön übergeben. "Uwe", fragt Herberger, "können Sie sich vorstellen, bei der WM 1970 wieder für Deutschland zu spielen? Überlegen Sie es sich!" Kurz danach meldet sich Schön. Er habe für Mexiko einen Plan: Müller als Sturmspitze, Seeler als hängende Spitze dahinter, rechts und links zwei Mittelfeldspieler, die nach vorn marschieren. "Ich habe Herrn Schön um drei Tage Bedenkzeit gebeten", sagt Seeler.
Die Idee fasziniert ihn. Aber er muss ein paar Dinge klären. Seeler ist kein Vollprofi, er hat eine Generalvertretung für Adidas, ist für den Sportschuhhersteller fast täglich in Norddeutschland unterwegs. "Wenn ich zur WM will, muss ich mindestens vier- oder fünfmal in der Woche trainieren, sonst macht das keinen Sinn", sagt er Schön, "die Zeit habe ich aber nicht." Seeler nimmt Kontakt zu Adolf "Adi" Dassler auf, Chef und Firmengründer von Adidas, einem der Hauptsponsoren der Nationalelf. "Uwe, das ist alles kein Problem, das regeln wir. Du arbeitest dann eben mehr von zu Hause", sagt Dassler. "Nach diesem Gespräch wusste ich", erzählt Seeler, "dass hinter meinem Rücken bereits alles abgesprochen war. Ich sollte zur WM. Ich habe dann Herrn Schön angerufen und zugesagt."
1961 erhält Seeler den Job bei Adidas. Das ist kein Zufall. Gerade hat er dem Werben Inter Mailands widerstanden, nach Italien zu wechseln. Trainer Helenio Herrera ist extra nach Hamburg geflogen, um Seeler zu überreden. Sie treffen sich im Hotel Atlantic. Das Angebot kann man eigentlich nicht ablehnen: 1,2 Millionen Mark Handgeld, 500 000 Mark pro Saison, Auto, mietfreie Villa. Seeler unterschreibt nicht. "Beim HSV habe ich zwar nur einen Bruchteil dessen verdient, aber wer weiß, ob ich in Italien glücklich geworden wäre. Mehr als ein Steak pro Tag kann man ohnehin nicht essen."
Nie spielt Seeler für einen anderen Verein als für den HSV
Seelers Absage macht ihn zum Idol in Deutschland, er wird nie für einen anderen Verein als den HSV spielen. Ganz mit leeren Händen steht Seeler nicht da. Dassler stellt ihn ein, als erster Fußballer macht er im großen Stil Reklame, wirbt für das Rasierwasser Hattrick. Heute sagt Seeler: "Ich habe wohl alles richtig gemacht."
Helmut Schön auch. Er muss öffentliche Prügel einstecken, als er Seeler und Müller nominiert. Auch der Mittelstürmer des FC Bayern meutert, will anfangs nicht mit Seeler spielen. Schön gilt als Feingeist, Zauderer, die Lösung mit Seeler und Müller als fauler Kompromiss. "Natürlich hat den Bundestrainer diese Kritik getroffen, er war sehr empfindlich", sagt Seeler, "aber er hatte immer klare Vorstellungen, wie er die Nationalmannschaft spielen lassen wollte. Allenfalls auf Herberger hat er noch gehört." In Mexiko werden Seeler und Müller zum Traumgespann, Müller mit zehn Treffern Torschützenkönig.
Uwe Seeler gelingen bei seiner vierten und letzten Weltmeisterschaft drei Tore. Deutschland wird Dritter. Drei Monate später erhält er als erster Sportler das Bundesverdienstkreuz.