HSV-Stürmer Horst Hrubesch war 1982 kurz davor, freiwillig von der WM in Spanien abzureisen. Dann schoss er Deutschland ins Finale.
Horst Hrubesch kann sich noch an jeden einzelnen Elfmeter erinnern. 3:3 stand es nach 120 Minuten im WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich in Sevilla. 70 000 Zuschauer waren soeben staunende Zeugen einer spektakulären Aufholjagd geworden. 1:3 hatte die DFB-Elf in der Verlängerung schon zurück gelegen, als der eingewechselte Karl-Heinz Rummenigge und Klaus Fischer mit ihren späten Toren die Partie doch noch drehten. Und alles gipfelte an diesem 8. Juli 1982 in dem ewig ungleichen Duell zwischen Torhüter und Elfmeterschützen.
Hrubesch war erst mit reichlich Verspätung zu einem aktiven Teilnehmer eines der legendärsten WM-Spiele geworden - in dem er am Ende sogar zum Hauptdarsteller werden sollte. Dabei hätte der Mittelstürmer, der in der 73. Minute für seinen HSV-Kollegen Felix Magath eingewechselt worden war, dieses Nervenspektakel beinahe nur als TV-Zuschauer vom heimischen Fernsehgerät aus verfolgt.
Eine Woche zuvor nämlich hatte Hrubesch Bundestrainer Jupp Derwall angeboten, nach Hause zu fahren. Der HSV-Kapitän hatte alle drei Vorrundenspiele bestritten und beim Skandal-spiel gegen Österreich, als sich beide Teams stillschweigend auf einen Nichtangriffspakt einigten, auch das 1:0 erzielt. Und sah sich plötzlich vor den beiden Finalrundenspielen gegen England und Spanien auf der Tribüne wieder.
"Die Trainer waren für uns Herrgötter", sagt Hrubesch heute. Widerspruch gab es nicht. Doch der Bundesliga-Torschützenkönig aus Hamburg, der die DFB-Elf 1980 mit zwei Toren im Finale gegen Belgien quasi im Alleingang zum Europameister geschossen und geköpft hatte, hätte sich zumindest eine Erklärung gewünscht. Als die ausblieb, nannte er Derwall "feige". Erst ein Gipfelgespräch auf Zimmer 326 des Madrider Mannschaftshotels, an dem neben Hrubesch und Derwall auch Kapitän Rummenigge und Co-Trainer Erich Ribbeck teilnahmen, verhinderte den Eklat. "Ich wollte keine Stimmungsmache betreiben, ich wollte mich aber auch nicht länger wie ein kleines Kind behandeln lassen", sagte Hrubesch hinterher.
Und vor allem wollte er Weltmeister werden. "Ich war ja ein Spätstarter, bin erst mit 24 Jahren in die Bundesliga reingerutscht." Er wurde dreimal mit dem HSV deutscher Meister und gewann 1983 den Europapokal, doch fragt man Hrubesch nach seinem wichtigsten Spiel, nennt er sein Bundesliga-Debüt im August 1975 mit Rot-Weiß Essen. "Ich habe gleich zwei Tore gegen Uerdingen erzielt. Danach wusste ich: Ja, ich kann es. Ich kann mithalten. Ich wollte immer mit solch großartigen Fußballern wie Lippens, Bast und Burgsmüller zusammenspielen."
Das versucht der DFB-Trainer Hrubesch, der die U 19 und die U 21 zum EM-Titel führte und dafür 2009 den Trainerpreis des deutschen Fußballs erhielt, heute auch den jungen Talenten zu vermitteln. "Ich sage ihnen immer, genau das muss euer Ziel sein: Sich mit den Allerbesten zu messen - und bloß nicht zu früh zufrieden sein." Ob Trochowski oder Schweinsteiger, Özil oder Marin, Neuer oder Khedira, Hummels oder Beck - es gibt nur wenige Spieler im WM-Kader von Joachim Löw, die nicht durch seine Schule gegangen sind.
Am meisten hält er von Jerome Boateng, der den HSV nun Richtung Manchester verlässt und im Herbst vergangenen Jahres verriet, dass Hrubesch seine Karriere gerettet hat. "Ich kenne Jerome, seit er 17 Jahre alt ist, und habe schon damals gesagt: Das ist er. Er hat eine große Ruhe am Ball und eine Spieleröffnung, die das Überraschende beinhaltet. In zwei, drei Jahren wird er einer der weltbesten Defensivspieler sein."
Wie er Boatengs Karriere gerettet hat, damit will Hrubesch nicht so recht rausrücken. "Manchmal muss man den jungen Spielern doch nur zuhören", sagt er. "Man muss ihnen sagen, dass man sie versteht. Aber auch, dass sie sich mal in die Lage von anderen versetzen sollen. Und man muss ehrlich mit ihnen sein."
Ehrlichkeit - dieses Wort fällt in einem Gespräch mit dem Tierfreund und Familienmenschen Horst Hrubesch am häufigsten. Mit seiner Frau Angelika lebt er auf einem Resthof bei Uelzen, sie haben neun Pferde. Auch die vier Enkel von den beiden Söhnen werden schon mal auf den Rücken der Edelbluthaflinger gesetzt. Dazu kommen ein Hund und eine 14 Jahre alte Doppelgelbkopfamazone. Der sprechende Papagei sagt Dinge wie "Guten Morgen", "Gute Nacht" oder "Horst, komm mal her". Auch Hrubesch spricht mit seinen Tieren. Pferdeflüsterer ist vielleicht ein zu großes Wort, aber der 59-Jährige sagt, dass er "die Pferde mit den Augen lenken kann". Sie zeigen ihm, was sie wollen. Und er zeigt ihnen, was er will.
Weil Hrubesch diese Ehrlichkeit vor 28 Jahren bei der WM vermisst hat, hat er sich aufgelehnt. Und kehrte nach der Aussprache, wenn auch mit Verspätung, doch noch ins deutsche Team zurück. Nach seiner Einwechslung im Halbfinale legte er per Kopf für Klaus Fischer auf - und der traf mit einem seiner unnachahmlichen Fallrückzieher zum 3:3. Abpfiff, Elfmeterschießen.
"Ich war nicht als Schütze vorgesehen, habe auch in Essen und beim HSV nie Strafstöße geschossen", erzählt Hrubesch. Aber er hatte sich jeden Elfmeter genau angesehen und registriert, dass sich der französische Torwart Jean-Luc Ettori bei jedem Schuss viel zu früh in eine Ecke schmiss. Kaltz, Breitner, Littbarski und Rummenigge hatten verwandelt - genau wie Giresse, Amoros, Rocheteau und Platini für die Franzosen. Weil sowohl Stielike als auch Six mit ihren Elfmetern scheiterten, ging der Nervenkrieg weiter.
Für die Franzosen trat Bossis an - und Toni Schumacher, der nach 60 Minuten mit einem brutalen Foul an Battiston für die hässlichste Szene der Weltmeisterschaft gesorgt hatte, hielt den Strafstoß. "Ich glaube, bei uns sollte Karlheinz Förster als Nächster schießen, aber als ich ihn auf der Bank sitzen sah, bin ich zu ihm hin und habe gesagt: Lass man, Kalle, ich mach das", erinnert sich Hrubesch.
Er war sich völlig sicher. Außerdem wusste Hrubesch, dass ein Fehlschuss nicht das WM-Aus bedeutet hätte. Auch das nahm den Druck. Nicht mal den Ball hat er sich selbst hingelegt. "Das hat der Schiedsrichter gemacht." Hrubesch lief an, Ettori sprang - und der Hamburger schob den Ball in die von ihm aus gesehene rechte Seite lässig über die Linie. 5:4, Finale. Der Rest war grenzenloser Jubel. Allerdings nur bis zum Endspiel. Das gewannen die Italiener drei Tage später in Madrid völlig verdient mit 3:1, und Hrubesch durfte wieder erst nach 62 Minuten mitspielen. Es war sein letztes von 21 Länderspielen, in denen er insgesamt sechs Tore erzielte.
Ob das Halbfinale glücklich gewonnen wurde? Egal. Dass Deutschland nicht Weltmeister geworden ist, lag für Hrubesch dagegen an einer "schlechten Vorbereitung" und daran, dass es im Team mehrere Blöcke gab. Und mit dieser abschließenden WM-Analyse beherzigt Hrubesch den wichtigsten Satz, den er als Co-Trainer beim FC Tirol von seinem Lehrmeister Ernst Happel für seinen Weg als Coach mitbekommen hat. "Du musst nicht wissen, warum du gewonnen hast. Du musst nur wissen, warum du verloren hast."
Lesen Sie morgen: Jan Kocian kam 1988 zum Bundesliga-Aufsteiger FC St. Pauli. Zwei Jahre später erlebte er als Kapitän der Tschechoslowakei im WM-Viertelfinale gegen den späteren Weltmeister Deutschland das Spiel seines Lebens.