Seine ehemalige Freundin hatte die Scheinehe schon vor zwei Wochen gestanden. Plötzlich tauchte ominöse E-Mail mit einem Widerruf auf.
Hamburg. Donnerstag, 15. April, 9.45 Uhr. Wie verabredet, erscheint der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Bülent Ciftlik bei der Staatsanwaltschaft Hamburg am Gorch-Fock-Wall im Beisein seines Verteidigers Thomas Bliwier zur Vernehmung, um die er selbst zwei Tage zuvor gebeten hatte. Es ist wohl ein Geständnis des 37-Jährigen zu erwarten. Schließlich hatte seine ehemalige Freundin Nicole D. gut zwei Wochen zuvor ein umfassendes Schuldeingeständnis bei der Staatsanwaltschaft abgelegt und sämtliche Vorwürfe der Ankläger bestätigt. Eine komplette Kehrtwende in dem Verfahren gegen Ciftlik, der immer abgestritten hatte, eine Scheinehe vermittelt zu haben, wie es die Anklage behauptet. Ciftliks Aussage sollte den Prozess, der Freitagmorgen vor dem Amtgericht St. Georg begann, verkürzen.
Mitten in der Vernehmung, über die ein Protokoll angefertigt wird, erwähnt Ciftlik dann plötzlich, dass er auf eine E-Mail warte, die bei der Staatsanwaltschaft eingehen solle. Und tatsächlich gibt ein Unbekannter zu dieser Zeit einen entsprechenden Ausdruck an der Pforte ab. Die Ermittler bitten einen Büroboten nachzusehen. Er findet ihn im Postverteiler und bringt ihn ins Vernehmungszimmer. Nicole D. ist als Absenderin benannt. "Der Empfänger ist eine Person, die kein Verfahrensbeteiligter ist", sagt Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers, Sprecher der Anklagebehörde. In der vermeintlich von Nicole D. versandten E-Mail steht, dass die Angaben, die sie Ende März bei der Staatsanwaltschaft gemacht habe, falsch seien. Ein Widerruf ihres Geständnisses?
Ciftlik dagegen gesteht, anders als erwartet, nichts. Die Vernehmung wird jetzt schlagartig beendet. Bülent Ciftlik unterzeichnet das Vernehmungsprotokoll nicht. Um 11.15 Uhr verlässt er den Raum. Ciftliks Anwälte legen kurz darauf ihr Mandat nieder. Handelte er entgegen der Ratschläge seiner Verteidiger? Die sagen mit Hinweis auf ihre anwaltliche Schweigepflicht nichts dazu.
Noch am Nachmittag lädt die Staatsanwaltschaf Nicole D. vor, befragt sie zu der E-Mail. Sie bestreitet, die Verfasserin zu sein, wählt sich über den Rechner des Staatsanwaltes sogar in ihr web.de-Konto ein. "Weder in den gesendeten noch in den gelöschten E-Mails haben wir eine derartige E-Mail gefunden und dieses mittels Bildschirmaufnahmen dokumentiert", sagt Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. "Wir haben daher keine Veranlassung, an den Angaben von Frau D. zu zweifeln."
Ob es sich bei der ominösen E-Mail, die der Staatsanwalt tags darauf als plumpe Fälschung bezeichnen wird, um einen strafrechtlichen Vorgang handelt, wird noch geprüft. Jedenfalls ist jetzt endgültig klar, dass der Prozess am nächsten Tag einen völlig anderen Verlauf nehmen würde.
Bülent Ciftlik wirkt übernächtigt, als er am Freitag um 8.51 Uhr Saal 1.01. des Amtsgerichts St. Georg betritt. Tiefe Ringe haben sich unter die Augen gegraben. Dem einst als Hoffnungsträger der SPD gefeierten Bürgerschaftsabgeordneten gelingt bestenfalls die Andeutung eines Lächelns.
Der 37-Jährige, der sich mit seinen Verteidigern durch einen Pulk von Journalisten und Kameraleuten wühlt, hat sich in den vergangenen Monaten verändert. Nichts ist mehr übrig von seiner lockeren, fröhlichen Art. Im braunen Pullover und mit offenem Hemdkragen erscheint er vor Gericht. Sonst zeigte er sich meist im Anzug, zumindest mit Sakko. Außer Ciftlik sind auch die Eheleute Nicole D. (33) und Kenan R. (39) angeklagt. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft soll Ciftlik seine "damalige Lebensgefährtin", die Diplom-Kauffrau Nicole D., überredet haben, "mit dem Imbiss-Besitzer Kenan T. auf dem Standesamt Eimsbüttel im Februar 2008 zum Schein eine Ehe einzugehen, um so eine Aufenthaltserlaubnis zu erwirken". 3000 Euro soll Kenan T. dafür gezahlt haben - Geld, das Ciftlik zwei Tage später als Kredit von Nicole D. erhalten und für seinen Bürgerschaftswahlkampf verwendet haben soll. Das Gesetz sieht bei einer Anstiftung zum bzw. dem Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vor. Im günstigsten Fall kämen der 37-Jährige und die zwei Mitangeklagten bei einer Verurteilung wohl mit einer Geldstrafe davon.
Am Freitagmorgen richten sich alle Augen auf Ciftlik. Der Zuschauerraum ist voll besetzt, auch SPD-Fraktionssprecher Christoph Holstein beobachtet die Verhandlung. Viele erwarten, dass Ciftlik sich endlich zur Sache äußern wird. Dass er versuchen wird, die Vorwürfe zu widerlegen, wie er es mehrfach angekündigt hatte. Doch die Verhandlung ist nach kaum einer Stunde vorbei. Das Gericht will Ciftliks neuen Verteidigern Zeit geben, sich in die Akten einzuarbeiten. Müde erhebt sich der Politiker und verlässt im Blitzlichtgewitter wortlos den Gerichtssaal. Seine Anwälte haben bis zum 30. April Zeit, sich eine Strategie zu überlegen. Sie selbst finden, dass diese Zeitspanne recht knapp bemessen ist.