Saga/GWG ist Hamburgs größter Wohnungskonzern. Jeder sechste Hamburger lebt in einer ihrer Wohnungen. Was die Fimra leistet.
Hamburg. In Hamburg wird preiswerter Wohnraum wieder knapp, es gibt zu wenige Neubauten, steigende Mieten sind die Folge. Was muss die Stadt leisten, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken? Wie nutzt sie ihr wohnungspolitisches Steuerungsinstrument? Wie sieht der Alltag in einer Saga/GWG-Wohnung aus? Und wie schafft Hamburgs größter Vermieter die Balance zwischen wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Ausgleich? Bei Sybille Köllmann muss man nicht viele Fragen stellen, um etwas zu erfahren. Meist genügt ein Stichwort, und schon sprudeln die Geschichten aus ihr heraus. Geschichten von früher, als es darum ging, Hamburg zügig mit genügend günstigem Wohnraum für untere Einkommensschichten zu versorgen. Damals, als die Saga-Zentrale an der Großen Bergstraße ihre Sozialwohnungen, von denen sich viele in Großsiedlungen wie Steilshoop, Mümmelmannsberg oder Kirchdorf-Süd befanden, betreute.
Drei Jahrzehnte später sitzt Sybille Köllmann im Ekenknick 4 und ist Leiterin der Saga/GWG-Geschäftsstelle Eidelstedt. 700 Quadratmeter, helle Räume, ein geschmückter Tannenbaum im gepflegten Eingangsbereich. Im ehemaligen Ortsamt arbeiten jetzt 16 Mitarbeiter, die sich zusammen mit zehn Hauswarten um 7000 Objekte kümmern. Vor zwei Monaten ist der Prozess der Integration von Saga/GWG nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit abgeschlossen worden. 70 000 Mieter- und 70 000 Technik-Akten wurden von 14 großen 7,5-Tonnern kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Aus 20 wurden 18 über die Stadt verteilte Geschäftsstellen, die sich nun um ihre insgesamt 300 000 Mieter in den 130 000 Wohnungen kümmern. "Früher waren wir nur Vermieter, heute sind wir auch Quartiersentwickler und Sozialarbeiter", sagt Sybille Köllmann. Deshalb ist ihre Geschichte auch die der ziemlich radikalen Wandlung eines Unternehmens, über das der verstorbene FDP-Chef und Immobilienmillionär Robert Vogel vor 20 Jahren gesagt hat: "Die Saga ist unsanierbar und nicht mehr zu retten."
1. DIE SAGA IN ZAHLEN UND FAKTEN
2. BÜRGERMEISTER OLE VON BEUST IM KURZINTERVIEW
3. GESAMTLISTE: SO HABEN SICH DIE MIETEN IN DEUTSCHEN GROßSTÄDTEN SEIT 2006 ENTWICKELT
4. GERSAMTLISTE: SO HABEN SICH DIE KAUFPREISE FÜR WOHNRAUM IN DEUTSCHEN GROßSTÄDTEN SEIT 2006 VERÄNDERT
5. KAUFPREISE: WO ES SEIT 2006 GÜNSTIGER ODER TEURER WURDE
Sybille Köllmann kann sich an das Früher noch sehr genau erinnern. Die 1980er-Jahre, die Zeit der Dringlichkeitsfälle und der Paragraf-5-Scheine, als allein das Wohnungsamt bestimmte, wer in welche Saga-Wohnung einziehen durfte. Als es, freundlich formuliert, immer ungemütlicher in den maroden Betonburgen wurde, die zudem mit Einkaufs-, Gastronomie-, Bildungs- oder Kulturangeboten eher spärlich bestückt waren. Vandalismus, Gewalt und Drogenmissbrauch waren die Folge eines Lebens in einem Umfeld, das den Menschen außer vier Wänden nicht besonders viel zu bieten hatte. "Wir haben damals gefragt, wie können wir die Wohnsiedlungen und das Leben darin überhaupt verändern, wenn wir nicht einmal darüber entscheiden dürfen, wer dort lebt?", sagt Köllmann. Erst der Belegungsvertrag mit der Stadt machte es 1996 endlich möglich, dass der Vermieter selbst über die Zusammensetzung der Bewohner entscheiden durfte.
"Plötzlich konnten wir sagen: Wir gucken jetzt mal, wie die Nachbarschaft im Haus am besten zusammenpasst", sagt Köllmann. "Ja, wir konnten anfangen zu mischen." Wissenschaftlich würde man heute wohl von dem "Versuch der Schaffung eines demografischen und sozialen Ausgleichs" sprechen. Wenn in einem Haus mit sechs ausländischen Familien eine Wohnung frei wurde, dann ging das Bestreben ab sofort dahin, diese an eine deutsche Familie zu vergeben. Und umgekehrt. Gab es viele alte Mieter, wurde versucht, neue junge zu finden. Wo Kinder fehlten, wurden Familien gesucht. Wo es an Aktiven mangelte, wurden Engagierte mit Kusshand genommen. Ein mühevoller und langwieriger Weg, die - auch durch die Architektur buchstäblich in Stein gemeißelte - Gettoisierung nach und nach wieder aufzuheben.
1991 rückte die Saga näher an ihre Mieter heran - mit dezentralen Geschäftsstellen. Und Sybille Köllmann bekam die größte in Hamburg: Eimsbüttel. 9000 Objekte, zuständig unter anderem für die Grindelhochhäuser (2500 Bewohner), die Lenzsiedlung an der Lutterothstraße (3000 Bewohner), den Reemstückenkamp in Eidelstedt (2500) und die Spanische Furt in Schnelsen (1500). Es begann die Zeit der großen Aufräumarbeiten, Millionen flossen in die Modernisierung. "Wir haben in 14 Jahren allein 90 Millionen Euro in die Sanierung der zehn Hochhäuser am Grindel investiert", sagt sie. Eines wurde verkauft, alle anderen entkernt. Neue Heizungen, neue Bäder, neue Küchen, neue Elektrik.
Nach der Dezentralisierung des Unternehmens und der Sanierung der Objekte folgte Schritt Nummer drei - die Aktivierung der Bewohner. Weil irgendwann im Unternehmen die Erkenntnis wuchs, dass man "die Quartiere entwickeln muss". Dass man auch in Menschen investieren muss. Netzwerke aufbauen, Ehrenamtliche finden. "Diese Menschen sind unser Juwel", sagt Sybille Köllmann. Sie spricht von "Kümmerern, die von uns gestärkt werden müssen". Denn es sei immer wieder "harte Arbeit, die Menschen zum Mitmachen zu aktivieren". Sie aus ihren Wohnungen rauszuholen.
Also bepflanzen sie Balkone, organisieren Sommerfeste und Ferienaktionen, unternehmen Ausfahrten mit Mietern, die schon 40 Jahre und länger in ihren Wohnungen leben. Kundenbindungsmaßnahmen, heißt das. Sybille Köllmann hat dafür einen Marketing-Etat von rund 50 000 Euro im Jahr. Ein Bruchteil ihres Gesamtetats, dessen Einhaltung erstes Gebot sei. Und der beim jährlichen Treffen der 18 Geschäftsstellenleiter immer neu festgesetzt wird. Kriegt dort der am meisten, der am lautesten schreit? "Nein", sagt sie und lacht, "das ist nicht immer ein Windhundrennen." Nach dem Motto: Bei mir fallen schon die Dächer ab, also brauche ich am meisten Geld.
Neben dem Etat geht es Sybille Köllmann um die Vermeidung von Leerstand. "Zurzeit haben wir eine Vollvermietung von 99,5 Prozent", sagt sie. Und an dritter Stelle steht die Forderungsentwicklung. Genauso wie mit "Pro Quartier" für die Quartiersentwicklung hat die Saga/GWG ein Tochterunternehmen mit der Schuldnerberatung beauftragt. Mieter reagierten zum Beispiel auf Mahnungen nicht, weil sie sich schämten. Da landen Briefe dann oft sofort im Papierkorb. "Also geht eine Mitarbeiterin mit einer Kopie der fristlosen Kündigung direkt zu den Betroffenen und versucht, die Situation im Gespräch zu klären", sagt Sybille Köllmann. Die Folge? "75 Prozent der Kündigungen mussten nach dem persönlichen Gespräch nicht vollzogen werden."
Das Ziel sei ja, die Mieter möglichst lange in ihren Wohnungen zu halten, "denn jede Neuvermietung verursacht Arbeit und damit Kosten." Und obwohl die Menschen anspruchsvoller geworden seien, würden sie auch verstehen, dass nicht alles von heute auf morgen passieren kann. "Wichtig ist, dass sie sehen, es passiert überhaupt etwas", sagt Sybille Köllmann und nennt als Beispiel eine Aktion am Reemstückenkamp in Eidelstedt. Dort werden die zum Teil 40 Jahre alten Heizungen nach und nach erneuert. Also hat der Hauswart eine Liste mit der Rangfolge der zukünftigen Sanierungsmaßnahmen ausgehängt, "nun können die Mieter sehen, wenn sie von Platz 18 auf Platz fünf vorgerückt sind". Auf ihre zehn Hauswarte lässt Sybille Köllmann ohnehin nichts kommen: "Sie sind meine Arme und Beine vor Ort."
Peter Fiedler hätte im Moment gerne mehr als zwei Arme und zwei Beine. Der Saga/GWG-Hauswart auf St. Pauli ist mächtig in Brass. Der Hüne mit den kurzen Haaren ist schon rein äußerlich keiner, der um die Arbeit einen Bogen macht, aber irgendwann ist ja auch mal gut. "Alle zerren sie an dir rum - und alle haben sie recht", sagt er wenig später. Da sitzen wir in seinem Büro am Pinnasberg. Das kleine Hauswart-Häuschen beheimatet einen der attraktivsten Arbeitsplätze der Stadt: Direkter Blick auf Elbe, Fischmarkt, Dock 11, die verhüllte Abramowitsch-Yacht und - ganz links - die wachsende Elbphilharmonie. Mehr Hamburg-Panorama geht nicht, doch Peter Fiedler kann damit im Moment nichts anfangen. Weil er zum einen die Sonnenschutzvorhänge zugezogen hat und zum Zweiten gerade sowieso nicht weiß, wo ihm der Kopf steht. Nach der Umstrukturierung der Geschäftsstellen ist sein Bestand von 470 auf knapp 800 Wohnungen hochgeschnellt, und nun stapeln sich auf dem computerlosen Schreibtisch mit dem riesigen Karteikasten die Faxe. Dazu klingelt pausenlos sein Handy. Wasserschäden in der Siedlung Hexenberg, mangelhafte Bäder in der Trommelstraße. Selbstklebende PVC-Leisten, die nicht kleben. Dubiose Stichflammen in einer Küche. Der 49-Jährige kann an die Decke gehen, wenn ihm solche Zwischenfälle von der Geschäftsstelle per Fax und nicht sofort übermittelt werden, "aber wenn irgendwo eine Glühbirne im Treppenhaus kaputt ist oder der Fahrstuhl piept, dann rufen sie mich postwendend an". Und dann? Dann sagt er zu der jungen Mitarbeiterin: "Lass piepen, ich geh da nachher mal vorbei."
Was braucht man als Hauswart unbedingt? "Das Herz am rechten Fleck", sagt Fiedler. "Man muss anpacken können, handwerkliche Fähigkeiten haben - und eine gute Menschenkenntnis." Schließlich arbeitet er an der Front: "Wir gucken uns die Probleme immer als Erste an." Er ist keiner, der die Mieter anschreibt, damit sie wegen bevorstehender Handwerkerarbeiten doch bitte ihr Schuhregal wegräumen sollen. "Ich gehe da hin und sag Bescheid." Und notfalls packt er schnell selbst mit an. Wenn er am Sonnabend vom Notdienst angerufen wird, weil ein Behinderter nicht in seine Wohnung reinkommt und man jetzt einen Schlüsseldienst beauftragen werde, dann versteht er die Welt nicht mehr: "Seid ihr bekloppt, ich gehe da eben rüber, mach die Tür auf und gut is." Schließlich hat er nicht nur Maler und Lackierer gelernt und dann im Bootsbau gearbeitet, sondern war später auch bei einem Sicherheitsdienst für Tür- und Fenstertechnik zuständig. "Ich kann auch Tresore öffnen", sagt er und lacht. So einer beauftragt nicht für alles sofort eine Fremdfirma. Und wenn, dann guckt er sich die Schäden vorher an, "damit mir die Firmen hinterher nichts erzählen".
Fiedler ist einer vom alten Schlag, und er verteidigt sein Unternehmen, wenn die Leute sagen, dass die Saga früher einmal gemeinnützig war und heute nur noch gemein ist. Das Unternehmen mag sich sichtbar wandeln. In der Trommelstraße hat die Saga jetzt einen Neubau hingesetzt, in dem der Quadratmeter "14,15 Euro" kostet. Ein Versuch, neue Mieter zu gewinnen. "Unser Publikum ändert sich", sagt Fiedler. Einer wie er ändert sich nicht mehr. Er hält es lieber mit den Ur-St.- Paulianern, die hier schon wohnten, "als noch mit Kohleöfen geheizt wurde und das Gemeinschaftsbad im Flur war". Mit denen man reden konnte, sich dabei in die Augen guckte und dann die Sache geregelt hat. Und deren zweiter Vorname nicht Anwalt ist.
Lutz Basse sitzt in einem beeindruckenden Konferenzraum mit Blick auf den Osterbekkanal in einem schmucken, fünfstöckigen Neubau in Barmbek. Vor fünf Jahren ist die Saga/GWG hierher an die Poppenhusenstraße gezogen. An dem monumentalen Tisch könnten auch bequem zwei Fußballmannschaften Platz nehmen. Der Vorstandsvorsitzende der Saga/GWG wiegt seine Worte und beschreibt das Verhältnis zu Anwälten und Mietervereinen als "partnerschaftlich". Hamburgs oberster Mieterschützer Eckard Pahlke (Mieterverein zu Hamburg) schrieb in einem Grußwort an Saga/GWG davon, dass dort "Mieterinteressen immer ein offenes Ohr finden". Der Verein "Mieter helfen Mietern" aber hat erfahren, dass geplante Modernisierungen an der Großen Elbstraße "auch erhebliche Mieterhöhungen zur Folge hätten", die sich alte Saga-Mieter oft "nicht mehr leisten könnten". Lutz Basse ist ein geübter Seiltänzer, der ständig die Balance halten muss zwischen wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Ausgleich. Mittlerweile aber kann der Chef von rund 900 Mitarbeitern mit berechtigtem Stolz eine Erfolgsgeschichte erzählen. "Wir führen jährlich 100 Millionen Euro an die Stadt ab, in zehn Jahren wird so eine Milliarde Euro zusammenkommen", sagt der 61-Jährige.Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass der Bestand an Sozialwohnungen stetig abnimmt. 46 000 sind es noch bei Saga/GWG, 103 050 insgesamt in Hamburg. 400 000 waren es in den 70er-Jahren. Wohnungen fallen aus der Sozialbindung heraus, andere werden den Mietern zum Kauf angeboten. "Privatisierung findet bei uns aber ausschließlich in Reihenhaussiedlungen statt", sagt Basse. "Denn dort wohnen oft Leute, denen ihr Häuschen besonders ans Herz gewachsen ist und die auch Eigentümer werden wollen."
Weniger Sozialwohnungen, zunehmende Verkäufe, Mieterhöhungen nach Modernisierung, immer lauter werdender Protest von verschiedenen Initiativen am "Ausverkauf der sozialen Stadt", in der "demnächst jeder gucken muss, wo er bleibt, wenn die Hamburger Mieten in dem bisherigen Tempo weiter steigen" - ist die Saga/ GWG also, trotz aller anderslautenden politischen Verlautbarungen, ein Auslaufmodell? "Keinesfalls", sagt Basse und verweist auf die durchschnittliche Miete von 5,30 Euro netto kalt pro Quadratmeter. Und auch die Mieten in den Wohnungen ohne Sozialbindung lägen noch sehr deutlich unter dem Hamburger Durchschnitt.
Trotzdem stellt sich natürlich die Frage, warum die Saga/GWG nicht mehr preiswerten Wohnraum schafft und dafür weniger Geld an die Stadt überweist? Basse: "Das eine hindert das andere nicht, weil das Unternehmen über ausreichend Rentabilität verfügt." Im Schnitt baut der Konzern 250 neue Wohnungen im Jahr, es sei aber auch schwierig, an geeignete Flächen heranzukommen. Auch wenn preiswerter Wohnraum knapper wird, sagt Basse: "Wir haben definitiv keine Wohnungsnot in Hamburg: Hier sind die Mieten bezahlbar, ganz anders als in München oder Stuttgart." Natürlich gebe es Engpässe in attraktiven Standorten, "aber das ist gleichzeitig auch eine große Chance, andere Stadtteile langfristig zu entwickeln". So wie zum Beispiel Barmbek, das sei mittlerweile "Ausweichquartier für junge Familien, die sich möglicherweise Altona und Ottensen nicht mehr leisten können".
Und was ist mit den jungen Kreativen? Kommt die Saga/GWG auch beim Gängeviertel ins Spiel? "Wir sind Auftragsverwalter der Stadt", sagt Basse, "wenn wirklich Not am Mann ist, dann sind wir bereit. Wir haben ja auch die Grundstücke rund um die Rote Flora gekauft." Er spricht davon, dass "wir natürlich Partner der Stadt sind, wenn's irgendwo brennt."
Der Schwerpunkt aber liegt eindeutig woanders. "Mümmelmannsberg, Jenfeld und Osdorfer Born - in diese drei Quartiere werden in den nächsten zehn Jahren rund 180 Millionen Euro für die Sanierung und energetische Modernisierung fließen", sagt Basse. Ohnehin investierte die Saga/GWG rund 250 Millionen Euro pro Jahr, um sicherzustellen, dass sie ihre Hauptaufgabe nicht aus dem Blick verliert: "Aufpassen, dass die Stadt an ihren Rändern nicht ausfranst."
Julius Jensen ist eine Art Randbewohner. Der 34 Jahre alte Theaterregisseur aus Wilhelmsburg hat von der Saga-Stiftung 25 000 Euro bekommen und will damit in die Köpfe der Menschen dringen. Wenn der Konzern in seinen Broschüren davon spricht, "Quartiere zu entwickeln und den sozialen Ausgleich zu stärken als Voraussetzung für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg", dann kommen Menschen wie Julius Jensen ins Spiel. Er selbst ist 1986 mit seinen Eltern aus dem Schanzenviertel in ein Reihenhaus in Kirchdorf gezogen, gleich nebenan die damals schlagzeilenträchtige Saga-Siedlung Kirchdorf-Süd. Jensen spricht im Rückblick von "sehr viel Angst" und dem "Recht des Stärkeren". Von Halbkriminellen, "die bei Penny reingingen und sich nahmen, was sie brauchten". Von Figuren mit "mafiösen Namen wie 'Killer' oder 'Gonzo', mit denen man auf keinen Fall Stress haben wollte". Und heute? "Das Grundproblem ist die Architektur an sich", sagt Jensen, "auch wenn Wände und Balkone jetzt bunt gestrichen sind."
Er selbst setzt auf den "Blauen Stuhl". So heißt das Wintermärchen, das er mit professionellen Schauspielern in der Honigfabrik in Wilhelmsburg auf die Bühne gebracht hat. In Workshops mit rund 400 Kindern aus Wilhelmsburger Schulen und Kindergärten haben diese das Stück mit entwickelt und entscheidend mitbestimmt, wohin die Weltreise auf dem Zauberstuhl gehen soll. Haben gefragt, ob man wirklich auf Wolken gehen kann und Tiere wie das Pandaschwein, die Stachelzecken und das Unugunu erfunden. "Es gibt noch Hoffnung", sagt Julius Jensen.
Der Blick aus dem Wohnzimmerfenster gibt nur ein kleines Stück Himmel frei. Ja, sagt Ronja Glummert, sie musste sich schon ein bisschen umgewöhnen, als sie mit ihrem Mann Jan und den beiden Kindern Lilian und Ryan vor zwei Jahren von Altona aus der Scheplerstraße hierher gezogen ist. Hierher, das ist die Lenzsiedlung in Eimsbüttel. Bis zu 14 Stockwerke hohe Häuser, grüne und gepflegte Innenhöfe. Von zahlreichen Balkonen grüßen die Satellitenschüsseln, in vielen Fenstern hängt selbst gebastelter Weihnachtsschmuck.
Manchmal, erzählt die 27-Jährige, kommt es noch vor, dass Bekannte sie fragen, ob sie sich denn abends nach Einbruch der Dunkelheit noch vor die Tür traue. Wahrscheinlich gibt es nicht viele Wohnquartiere in Hamburg, in denen die Diskrepanz zwischen wirklichem Leben und öffentlicher Meinung größer ist als hier. Ronjas Schwester, die schon länger in der Lenzsiedlung wohnt, "will hier nie wieder weg". Jans Schwester, die auf dem Land zu Hause ist, hat beim ersten Besuch geschluckt. "Oh, Gott." Und wie ist es wirklich? "Wir fühlen uns hier sehr wohl", sagen die beiden. Und das klingt nicht wie aufgesagt.
Die Vorteile liegen ja auch auf der Hand beziehungsweise gleich nebenan. Man wohnt zentral, kommt überall schnell hin, Hagenbeck ist um die Ecke, das Niendorfer Gehege auch. Die U-Bahn ist vor der Tür, genau wie der Sportverein Grün-Weiss Eimsbüttel, dazu gibt es Spielplätze, Schulen und Einkaufsmöglichkeiten. "Die Leute hier sind alle nett und freundlich, und es gibt sehr viele Familien mit kleinen Kindern", sagt Ronja. Das überzeugendste Argument aber ist die Miete. Für 80 Quadratmeter zahlen sie 670 Euro warm. Ihre Dreizimmerwohnung ist zwar aus der Sozialbindung raus, aber für etwas mehr als 6 Euro pro Quadratmeter Kaltmiete lässt sich nichts Vergleichbares finden. Weshalb aus der Lenzsiedlung auch kaum jemand wegzieht. Und Familie Glummert hat die Wohnung nur bekommen, weil Jan hartnäckig war, immer wieder nachgefragt hat.
Außerdem ist die junge Familie bei Vermietern begehrt. Bei Ronja und Jan sind die Kinder der Mittelpunkt. Lilian und Ryan haben eigene Zimmer, während die Eltern zum Schlafen die Couch im Wohnzimmer ausziehen. Und was ist nicht so schön? "Na ja, man wohnt schon ein bisschen auf dem Präsentierteller" sagt Jan, der als Zeitsoldat bei der Bundeswehr in Lüneburg arbeitet. Vor der Terrasse haben sie sogar noch einen kleinen Garten, den Traum vom eigenen Heim haben sie aber nicht aufgegeben: "Vielleicht müssen wir irgendwann ja doch nicht mehr in einem Hochhaus wohnen."