Kirk M.: Erdrosselt und verbrannt - wegen ein paar Euro Schulden? Gestern begann der Prozess in dem Fall, der Hamburg erschütterte. Er wollte nur Freunde besuchen - und kehrte nicht zurück. Noch heute lauscht seine Mutter nachts, ob er nicht durch die Haustür kommt ...

Mit einem Kuss verabschiedet sich Kirk von seiner Mutter Simone M. (42). Auch im schwierigen Alter von 17 Jahren hat er keine Mühe, Gefühle zu zeigen. Sie haben gerade gegessen. Chinesisch, so wie er es mag. Er sagt, er wolle seine Freunde von der Lutterothstraße besuchen. Fast jeden Tag nimmt der 1,98 Meter lange Schlacks mit seinen Inlineskatern den 15 Kilometer langen Weg von Billstedt nach Eimsbüttel auf sich. Dort ist er aufgewachsen. In Billstedt wohnt er erst seit zweieinhalb Jahren. Simone M. mahnt ihn noch, nicht zu spät nach Hause zu kommen. "Ja, ja" - es sind die letzten Worte, die Simone M. von ihm hört.

Es ist 17.30 Uhr am 15. April 2008. Wenige Stunden später ist Kirk M. tot. Erdrosselt und dann verbrannt.

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Die mutmaßlichen Täter Gzim L. (22), Labinot B. (21) und Yakup M. (20), die sich seit gestern vor Gericht verantworten müssen , kennt Simone M. nicht. Dass das Motiv wenige Euro Drogenschulden sein soll, kann sie nicht fassen. Sie erinnert sich, dass Kirk sie im Januar und zuletzt im März gebeten hatte, ihm 30 und 35 Euro zu geben, damit er Schulden bezahlen könne. Dass es dabei um Marihuana ging, verschwieg er. "Ich habe auch nicht gefragt." Während sie das erzählt, brennt eine Kerze neben einem Schwarz-Weiß-Foto von Kirk auf der Anrichte neben dem Fernseher. Kirk lächelt darauf.

Am Morgen nach der letzten Begegnung steht Simone M. um 5 Uhr auf. Sie ist Angestellte in der Poststelle eines Unternehmens, muss zur Arbeit. Da bemerkt sie, dass ihr Sohn nicht zu Hause ist. Möglich, dass er bei seinen Freunden in der Lenzsiedlung am anderen Ende der Stadt übernachtet. Das ist nicht außergewöhnlich. Es ist die einzig logische Erklärung für seine Abwesenheit. Simone M. und ihr Mann Andreas (41) lassen dem 17-Jährigen viele Freiheiten. "Wenn der aber heute wieder nicht zur Schule geht, dann gibt es richtig Ärger", denkt sich die Mutter.

Hin und wieder schwänzt Kirk den Unterricht in der Gewerbeschule für Flugzeugtechnik. Er kifft, auch zu Hause in seinem Zimmer. "Ich habe kleine Tütchen mit grünen Krümelchen bei ihm im Zimmer gefunden", erzählt Andreas M. Der Sicherheitsdienstmitarbeiter ist zwar nicht sein leiblicher Vater - Andreas und Simone M. heirateten, als Kirk noch nicht einmal zwei Jahre alt war. Doch er ist das "Papschen", das Kirk liebt.

Die Standpauke nach dem Drogenfund verhallt. "Linkes Ohr rein, rechtes Ohr raus", sagt Andreas M.

Das ist die eine Seite von Kirk. Die andere ist seine Hilfsbereitschaft. Kirk hat viele Freunde. Mit ihren Problemen kommen sie zu ihm. Er hört zu. Um sie nachmittags sehen zu können, schnallt er sich seine Inlineskater an die Füße. "Der schaffte die Strecke nach Eimsbüttel in 40 Minuten", erinnert sich sein Vater. "Und dann spielte er noch stundenlang Basketball." Kirk liebt seine elf und 15 Jahre alten Schwestern. Er spricht schon davon, irgendwann seine Freundin Patricia heiraten und Kinder bekommen zu wollen. Wenn er traurig ist, schämt er sich seiner Tränen nicht.

Auf seinem Computer bastelt Kirk an Hip-Hop-Liedern, versucht seinem Rapper-Vorbild Eminem nachzueifern. Er sieht sogar langsam ein, dass er sich in der Schule anstrengen muss. Hoch konzentriert macht er sich daran, das Schlachtschiff "Bismarck" aus unzähligen Holzteilen nachzubauen. Er hat es nur bis zum Rumpf geschafft. "Irgendwann muss ich das zu Ende bringen", sagt Andreas M.

Als Kirk auch Stunden nach seinem Verschwinden auf seinem Handy nicht zu erreichen ist und auch die Eimsbütteler Freunde nichts von ihm gehört haben, geht Simone M. mit einem Foto ihres Sohnes zur Polizei. Sie denkt sich nichts Schlimmes, sie hat keine Angst. Selbst dann nicht, als ihr Mann noch sagt: "Nicht, dass Kirk tot in der Ecke liegt." Nein, sie spürt keine Sorgen - nur Wut. Wut darüber, dass Kirk sich nicht meldet.

Der Abend bricht an. Kirks Eltern machen gemeinsam mit einem Freund die Steuererklärung. Irgendwann geht Andreas M. ins Bett. Morgen muss er früh raus. Um 22.30 Uhr klingelt es an der Tür. Drei Kriminalbeamte in Zivil stehen am Eingang. "Ihr Sohn ist tot. Ein Mitarbeiter der Stadtentwässerung hat ihn auf einer Wiese in Billwerder gefunden." Der erste Gedanke, den Andreas M. hat, ist: "Ihr geht raus und kommt noch mal rein. Dann sagt ihr uns etwas völlig anderes." Sie bekommen ein Foto von Kirks weißer Jacke zu sehen. "Ich will zu Kirk", sagt Simone M. "Das geht nicht. Sie können ihn nicht sehen", lautet die Antwort. Später erfahren Mutter und Vater, dass der Leichnam ihres Sohnes mit Benzin übergossen und angezündet wurde. Diesen Anblick kann man Eltern nicht zumuten. Erst als die Beamten wieder gegangen sind, fallen Simone M. Fragen ein: Wie ist mein Sohn gestorben? Warum? Wer hat es getan?

Es sind die gleichen Fragen, die sich die Beamten der Mordkommission auch stellen, aber noch nicht beantworten können. Es dauert zehn lange Tage, bis sie es schaffen, die mutmaßlichen Täter zu ermitteln und festzunehmen. Hart gesottenen Fahndern ist die Erleichterung darüber anzusehen.

Die wird es für die Familie nicht geben. "Ich träume von Kirk. Dass er mich umarmt", sagt Simone M. Doch das wohlige Gefühl währt nicht lange. Wenn sie aufwacht, quälen sie Panik-Attacken. Andreas M. versucht sich zu schützen, indem er sich immer wieder sagt, dass Kirk doch gar nicht sein leiblicher Sohn sei. Dann kann es ja nicht so schlimm sein, redet er sich ein. Er weiß, dass er sich etwas vormacht. Es hilft nicht. Als Kirks Sarg zum Grab gebracht wird, schafft er es kaum, sich von der Kirchenbank zu erheben.

"Wir haben Angst, irgendwann in ein großes Loch zu fallen", sagen die Eltern. Noch funktioniert alles. Es muss. Da sind noch die beiden Mädchen. "Man hat uns etwas sehr Liebes genommen und die Chance, uns von Kirk zu verabschieden." Wut empfinden sie nicht gegenüber den mutmaßlichen Tätern. Vielleicht noch nicht.

"Mein Kopf weiß, dass er tot ist", sagt Simone M. "Es ist nur noch nicht im Herzen angekommen." Immer wieder nachts, wenn alle anderen schlafen, dann wartet sie. Sie wartet darauf, dass die Haustür aufgeht und Kirk sich in sein Zimmer schleicht.