Die Bewohner des Hauses an der Erzbergerstraße sind im Hotel oder bei Freunden und Verwandten untergekommen.

"Ich fühle mich hier sehr wohl, es ist eine Art Zwangsurlaub", sagt Ralf Wiegandt (36) - er ist einer der 30 Mieter des Gifthauses an der Erzbergerstraße Nr.4, die ihre Wohnungen wegen der Untersuchungen vorerst verlassen mussten. Jetzt sitzt er im feudalen Foyer eines Edelhotels. Im Fernsehgerät knistert in einem Videofilm ein Kaminfeuer.

Andere Mieter sind größtenteils bei Freunden und Verwandten untergekommen. Die Hotelkosten übernimmt die Stadt. Die erste Nacht danach, nach dem "Strahlenalarm" - Wiegandt hat sie gut überstanden. "Ich habe sehr gut geschlafen", sagt er. Während das Mehrfamilienhaus an der Erzbergerstraße weiter auf Strahlung untersucht wird, auf Polonium 210, residiert Wiegandt in einem Hotel - mit allem Komfort.

"Erst mal ist für eine Woche gebucht, aber ich weiß noch nicht, wie lange ich hier bleiben muss. Vielleicht nur ein paar Tage."

Seit Juli 2005 wohnt Wiegandt an der Erzbergerstraße Nr. 4 - als Untermieter von Dmitri Kowtun, dem Kontaktmann des mit Polonium vergifteten Ex-KGB-Agenten Alexander Litwinenko. Ein Zimmer in einer Wohnung im dritten Stockwerk. Im Juli vergangenen Jahres las er eine Annonce in der Uni: "Zimmer unterzuvermieten" - der Wohnungseigentümer war ein Hartmut K. Er gilt als der Lebensgefährte der Ex-Schwiegermutter Kowtuns. Als Hauptmieter war Kowtun im Untermietvertrag angegeben. Auch Kowtun selbst war im Haus gemeldet, in einer Wohnung im Erdgeschoss. "Ich habe Kowtun nie gesehen. Ich habe nur vom Makler den von Kowtun unterschriebenen Vertrag zugeschickt bekommen. Der Makler sagte, Kowtun sei oft im Ausland."

Der Untermietvertrag liegt dem Abendblatt exklusiv vor. Das Objekt: ein Zimmer, für 210 Euro Miete im Monat, befristet bis Juli 2007. Wenig später zog noch ein weiterer Mieter in der Zweizimmerwohnung ein. Ansprechpartnerin für die beiden Kowtun-Mieter war stets dessen Ex-Frau, Marina W. Auch sie wohnt in dem Haus. Wiegandt: "Sie hatte wohl so eine Art Hausmeister-Funktion." Einmal habe es Streit gegeben mit ihr. Grund: "Es sollte ein dritter Mieter bei uns einziehen." Dafür sollte es einen baulichen Mauerdurchbruch geben: Die Wohnung, in der Wiegandt und sein Mitbewohner wohnten, sollte ein Zimmer dazubekommen, aus der Nachbarwohnung, in der Marina W. wohnte. "Wir haben das abgelehnt." Nach diesem Streit habe Frau W. "meinen Mitbewohner nicht mehr gegrüßt".

Sonntag, Erzbergerstraße Nr. 4 in Ottensen: Bei Anwohnern und Passanten gibt es immer noch nur ein Thema: der Agentenkrimi um Kowtun, der dort einst lebte. Es ist eine bizarre Szenerie in der Straße, die über Nacht berühmt wurde, in die Weltöffentlichkeit geriet: Polizisten sichern den Straßenzug, gehen in das besagte Haus hinein, kommen wieder heraus. Besprechen sich mit Kollegen, telefonieren mit der Einsatzzentrale. Und dann die nahezu unbekümmerte Sonntagsstimmung der Spaziergänger, die an der Erzbergerstraße vorbei Richtung Elbe laufen oder Richtung Ottenser Hauptstraße zum Weihnachtsmarkt gehen. Als sei nichts geschehen.

So wie Nadine (24) und Udo B. (28) aus der benachbarten Winterstraße, die mit ihren Freunden brunchen waren und einen kleinen Umweg über die Erzbergerstraße machen - um zu schauen, was da los ist: "Klar, neugierig ist man schon. Es ist ein komisches Gefühl, dass sämtliche Arten des Terrorismus sich in Hamburg sammeln", sagt Nadine.

Aber richtige Sorgen macht sich das Paar wegen des Agenten-Thrillers oder des radioaktiven Poloniums mitten in Ottensen nicht: "Wir haben uns über den Stoff informiert. Wenn man nicht in direkten Kontakt kommt, kann ja nichts passieren. Ähnlich besonnen sieht das der Bahrenfelder Hermann Bergmann (41), der mit seinen Kindern Lotta (4) und Pelle (6) gerade auf dem Ottenser Weihnachtsmarkt war: "Es ist zwar schon erschreckend, mit welchen schrecklichen Methoden Leute kaltgestellt werden. Aber solange man nicht selbst betroffen ist, sollte man die Sorge nicht übertreiben", sagt der Familienvater.

Der Gesprächsstoff um Kowtun & Co., er wird so schnell nicht verstummen, in Ottensen wohl erst recht nicht. Zumal die Akteure in der Nachbarschaft auch keine Unbekannten sind. "Die Ex-Frau von Kowtun hat einen Parkplatz in der Nähe gemietet. Sie kam fast täglich hierher, um Kaffee zu trinken", sagt ein Kellner aus dem Ristorante Spaghetteria am Spritzenplatz.

Er ist an diesem sonnigen und entspannten Sonntag einer der wenigen Ottenser, der Angst duchblicken lässt, vor Polonium und Spionagegeschichten.