Hamburg. Die Zehnjährige taucht nach einem Besuch im Einkaufszentrum 1999 nicht wieder auf. Hinweise gibt es viele – aber keine Gewissheit.
Quälende Ungewissheit zermürbt. Sie frisst sich in die Seele. Sie macht das Leben zur Hölle. Die Familie von Hilal Ercan durchlebt diese Qual seit fast 25 Jahren – seit dem 27. Januar 1999 ist das Mädchen verschwunden. Sie war damals zehn Jahre alt. Der Fall löste die umfangreichste Suchaktion nach einem Menschen in Hamburg aus. Noch heute ist der Fall ungelöst. Das Schicksal von Hilal bleibt damit ungeklärt.
Die letzten Stunden vor dem Verschwinden des Mädchens sind gut rekonstruiert. An dem nasskalten Tag Ende Januar 1999 hatte ihr Vater Hilal von der Schule abgeholt. Weil die Viertklässlerin ein gutes Zeugnis bekommen hatte, gab es eine Belohnung. Die Lehrerin hatte Hilal für die großen Fortschritte gelobt, die sie in der Schule gemacht hatte.
Polizei Hamburg: Der Fall Hilal bleibt eine endlose Suche
Das Mädchen durfte sich dafür eine Mark aus einer Dose in der elterlichen Wohnung nehmen. Mit dem Geld ging sie zum Einkaufszentrum Elbgaustraße, das in Sichtweite des achtstöckigen Wohnblocks liegt, in dem Hilal mit ihren Eltern und Geschwistern im siebten Stock wohnte.
Im Haus hatte sie damals noch ihre neun Jahre alte Schwester Fatma begleitet, die unten auf der Straße einen Brief in einen Briefkasten steckte. Dann trennten sich die Wege von Hilal und Fatma, die ihre Schwester nie wiedergesehen wird.
Hilal ging anschließend zum Einkaufszentrum. Dort kaufte sie Kaugummi der Sorte Hubba-Bubba mit Cola-Geschmack. Das war ihre Lieblingssüßigkeit. Das war um 13.22 Uhr. Ein Kassenbon hatte den Zeitpunkt des Kaufs dokumentiert. Hilal war vermutlich schon auf dem Heimweg, als sie noch einmal gesehen wurde, als sie an einem Gemüseladen vorbei lief.
Hilal soll an der Hand eines Mannes gesehen worden sein
Anfang März 1999, mehr als einen Monat nach dem Verschwinden von Hilal, meldeten sich dann zwei Männer, die einen weiteres Puzzleteil zu dem Vermisstenfall beitrugen. Sie waren am 27. Januar in einem Firmenwagen im Stadtteil Lurup unterwegs gewesen.
Gegen 13.30 Uhr hatten sie an einer roten Ampel halten müssen. Während sie dort standen, fiel ihnen ein Mann auf, der auf dem zur Spreestraße gelegenen Parkplatz des Einkaufszentrums Elbgaustraße mit einem Kind an der Hand in Richtung der Parkplatzausfahrt ging. Die Beschreibung, Aussehen und Kleidung, passte zu Hilal, die bei ihrem Verschwinden eine schwarz-grau gemusterte Jacke, schwarze Jeans und einen orangefarbenen Pullover getragen hatte.
Polizei Hamburg: Hatte die Familie etwas mit dem Verschwinden zu tun?
Die Polizei ermittelte, wie es in so einem Fall zunächst immer heißt, „in alle Richtungen“. Tatsächlich gab es zu Beginn der Ermittlungen neun Arbeitshypothesen. Neben einem Kapitalverbrechen wurden unter anderem auch ein Unfall in Betracht gezogen, zudem schien möglich, dass Hilal von Zuhause weggelaufen sein könnte, dass eine Kindesentziehung vorliegen oder es sich um eine vorgetäuschte Tat gehandelt haben und Hilal in die Heimat ihrer Eltern, die Türkei, verbracht worden sein könnte.
Schon nach wenigen Wochen Ermittlungsarbeit und umfangreichen Suchmaßnahmen, unter anderem hatten Leichenspürhunde des Roten Kreuzes Keller von Häusern im Bereich des Einkaufszentrums durchsucht oder es waren große Handzettelaktionen durchgeführt worden, waren lediglich zwei Hypothesen übrig geblieben. Die Schülerin war Opfer eines Kapitalverbrechens geworden oder die Familie hatte etwas mit ihrem Verschwinden zu tun.
Ermittlungen gegen die Großmutter von Hilal wurden eingestellt
Letzteren Verdacht hatte das Verhalten der Großmutter von Hilal befeuert. Die damals 54-Jährige hatte ein falsches Alibi angegeben, sowie falsche und widersprüchlich Aussagen gemacht. Auch deshalb wurden die Ermittlungen auf die Türkei ausgeweitet. Später stellte sich heraus, dass es familiäre Gründe waren, die das Verhalten der Großmutter erklärten.
Aber auch andere Angehörige der weit verzweigten Familie, darunter ein Onkel des Mädchens, bei dem durchsucht und eine scharfe Waffe gefunden wurde, hatten die Ermittler im Visier. Am Ende führten diese Ermittlungen ins Nichts. Damit schied auch die These, dass die Familie etwas mit dem Verschwinden der Zehnjährigen zu tun hatte, aus. Eingeleitete Ermittlungen gegen die Großmutter wegen des Verdachts der Kindesentziehung wurden eingestellt.
Zwei Wochen nach dem Verschwinden wurde die Soko „Morgenland“ gegründet
Der Fall Hilal hatte bei der Polizei von Anfang an hohe Priorität. Denn bereits am 8. Februar, also keine zwei Wochen nach dem Verschwinden des Mädchens, wurde die Soko „Morgenland“ gegründet, in der 20 Ermittler zusammengezogen wurden. Zu Spitzenzeiten waren es 140 Beamte die in und für die Soko arbeiteten.
Leiter der Sonderkommission wurde der damalige Kriminaldirektor und spätere, mittlerweile pensionierte LKA-Chef Reinhard Chedor, der sich schon bei der Jagd nach dem aus der Therapie entkommenen Heide-Mörder Thomas H. einen Namen gemacht hatte.
Mit dabei war auch die Polizeipsychologin Claudia Brockmann, der eine wichtige Roll zugedacht war, insbesondere mit Blick auf eine Entführung, bei der das Mädchen noch lebt. Sie sollte unter anderem wohl gefeilte Nachrichten entwerfen und so Botschaften an die Täter vermitteln.
„Aktenzeichen XY ungelöst“ greift den Fall zweimal auf – ohne Ergebnis
Denn die Haupthypothese der Polizei war mittlerweile, dass Hilal Opfer eines Kapitalverbrechens, insbesondere eines Sexualverbrechens wurde. Auch in dem Fall gab es mehrere Ansatzpunkte. So wurde nicht ausgeschlossen, dass Hilal für Kinderpornos missbraucht wurde und irgendwo gefangen gehalten wird. Aber auch ein Sexualmord zogen die Ermittler ins Kalkül. So wurden Sexualstraftäter aus ganz Deutschland überprüft.
Anfang 2002, fast drei Jahre nach dem Verschwinden des Mädchens, wurde die Soko „Morgenland“ aufgelöst und der Fall in die „Alltagsorganisation“, also an eine der dauerhaft bestehenden Dienststellen im LKA 4, zuständig für Kapitaldelikte, abgegeben.
Alle Ansätze, darunter die Auslobung einer Belohnung von 20.000 Mark für Hinweise, die zur Aufklärung des Schicksals der Schülerin führten, oder eine erste Ausstrahlung des Falls in der Fahndungssendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ Ende März 1999, brachten die Ermittler nicht weiter. Auch eine zweite Sendung im November 2011, ein Spezial der Fahndungssendung, bei der es um vermisste Kinder ging, brachte keine brauchbaren Hinweise.
Ein verurteilter Kinderschänder gesteht die Tat – und widerruft Geständnis später
2005 schien sich das Blatt zu wenden. Dirk A., ein verurteilter Kinderschänder, der unter anderem im Jahr 2000 ein Mädchen so lange gewürgt hatte, dass es fast starb, gestand, Hilal entführt und getötet zu haben. Detailreich hatte er gegenüber Ermittlern die Tat geschildert. Der Mann, der in der geschlossenen Psychiatrie im Klinikum Nord einsaß, war schon länger im Visier der Polizei gewesen.
Es hatte bereits über Monate immer wieder Vernehmungen durch die Polizei gegeben, bis er schließlich die Beamten zu einer Stelle im Volkspark führte, wo er die Leiche des Mädchen vergraben haben wollte. Gefunden wurde nichts. Der Mann widerrief sein Geständnis.
Polizei Hamburg sucht nach Auto des verurteilten Kinderschänders
2006 gestand er ein zweites Mal die Tat und führte die Polizei zu einer Kiesgrube im Waldpark Marienhöhe in Rissen. Die Polizei grub dort ein 70 mal 70 Meter großes Gelände um. Auch bei dieser Aktion wurden nicht die sterblichen Überreste des Mädchens gefunden. Der Mann widerrief erneut die Tat.
Bis heute gibt es keine Beweise gegen Dirk A., durch die die Polizei ihm die Tat zuordnen kann. Dabei hatte man selbst das Auto von Dirk A., in dem er mehrere Kinder, Mädchen und Jungen, missbraucht hatte, auf dem Balkan suchen lassen. Der Maler hatte das Fahrzeug, einen dunkelblauen BMW, zwei Wochen nach Hilals Verschwinden verkauft. Es war dorthin exportiert worden. Die Polizei hoffte vergeblich, das Auto zu finden und DNA-Spuren zu entdecken.
Am Einkaufszentrum Elbgaustraße wird eine Fahndungserinnerung angebracht
2018 gab es ein weitere Suchaktion. Den Fall Hilal hatte mittlerweile die 2016 gegründete Ermittlungsgruppe „Cold Case“ übernommen, die darauf spezialisiert ist, lang zurückliegende Mord- und Vermisstenfälle zu klären. Dazu ließ man im Einkaufszentrum an der Elbgaustraße eine, wie es im staksigen Behördendeutsch heißt, „dauerhafte Fahndungserinnerung“ anbringen.
„Wir hoffen, Zeugen von damals anzusprechen, die doch noch etwas zum Verschwinden Hilals beitragen können. Die kleinste Information mag ein riesiges Puzzleteil darstellen, das ein Bild komplettiert“, sagte dazu der damalige Leiter der Ermittlungsgruppe.
Hilal – zum 20. Jahrestag des Falls wird Phantomskizze veröffentlicht
Tatsächlich gab es einen neuen Zeugen. Der will 1999 etwas Verdächtiges gesehen haben, was im Zusammenhang mit dem Verschwinden Hilals stehen könnte. Wieder war es der Volkspark, zu dem die Polizei ausrückte. Leichenspürhunde schnüffelten und schlugen an. Ein Areal, groß wie ein Fußballfeld, wurde umgegraben. Doch außer Plastiktüten und alter Kleidung, die nicht Hilal zugeordnet werden konnte, fand man nichts.
2019, zum 20. Jahrestag des Verschwindens von Hilal, gab es einen weiteren Fahndungsaufruf der Polizei. Diesmal erstmals mit einer Phantomskizze. Sie zeigt den Verdächtigen, einen blonden, stämmigen Mann, der zum Zeitpunkt des Verschwindens des Mädchens 40 bis 50 Jahre alt gewesen sein soll.
Hilals Bruder startet bewegende Fahndungsaufrufe
Wie die Polizei gab auch Hilals Familie die Suche nie auf. Wie sehr die Eltern und Geschwister litten, zeigte sich. Die Familie zog in einen anderen Stadtteil. Die Mutter machte mehrere Therapien. Dinge, die an Hilal erinnern, beispielsweise Fotos, verwahrten die Eltern in einem Koffer. Bruder Abbas, der ein Jahr vor Hilal geboren wurde, machte sich die Suche nach seiner verschwundenen Schwester zur Aufgabe. Er startet bewegende Fahndungsaufrufe und erreichte, dass ein Linienbus mit einem großflächigen Fahndungsplakat beklebt wird.
Vor knapp einem Jahr rückte die Polizei erneut in Volksparknähe an. Ziel war ein Kleingartengelände an der Nasenstraße. Unterstützer der Familie Ercan hatten die Aktion ausgelöst. Sie hatten eine Kleingartenparzelle oberhalb der A7 identifiziert, die Dirk A. genutzt haben soll. Von privater Seite hatte sie auch einen angeblichen Leichenspürhund das Gelände abschnüffeln lassen. Der Hund schlug an. Genauso wie ein zweiter Hund.
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Die Polizei ließ das Gelände absuchen und setzte dabei auf die Hilfe der Uni Hamburg, die Archäologen mit einem Bodenradar zur Verfügung stellte. Tatsächlich wurden mit Hilfe der Technik zunächst Unregelmäßigkeiten im Boden gefunden. Später kamen bei Grabungen sogar Knochen zum Vorschein. Doch die stammten von einem Schwein.
Polizei Hamburg: Hilal – Chefermittler geht in Pension, ohne Fall lösen zu können
Reinhard Chedor, der den Fall zu einem persönlichen Anliegen machte, ging 2012 in Pension, ohne den Fall gelöst zu haben. Später konnte er im Rahmen einer privaten Ermittlerguppe dazu beigetragen, dass der sogenannte Göhrde-Möder Kurt-Werner Wichmann überführt und die Leiche eines seiner Opfer, die Schwester des ehemaligen Hamburger LKA-Chefs Wolfgang Sielaff, nach drei Jahrzehnten der Ungewissheit über ihr Schicksal gefunden wurde.
Hilal dagegen bleibt bis heute verschwunden. Sie ist damit der einzige Langzeitvermisstenfall in Hamburg, der ein Kind betrifft.