Hamburg. Der Vater der verschwundenen Hilal hatte Frau und Tochter verletzt. Entscheidende Augenblicke der Tat blieben im Prozess unaufgeklärt.

Sie standen da und lächelten. Einer nach dem anderen aus der Familie nahm Kamil E. in den Arm, auch die Ehefrau des 57-Jährigen und seine Tochter. Dabei sind sie beide Opfer des Mannes geworden. Doch die Familie hält zusammen. Auch jetzt noch, nach den Ereignissen, die im Prozess vor dem Schwurgericht mehrfach als „Tragödie“ bezeichnet werden.

Es sind Angehörige, die seit vielen Jahren gemeinsam Entsetzliches durchmachen: den Verlust der Tochter, der Schwester. Seit mehr als 22 Jahren ist das Schicksal der damals zehnjährigen Hilal ungeklärt. Sie ist spurlos verschwunden.

Dieses schwere Schicksal wirkt bis heute noch deutlich nach, führt zu Trauer, Schmerz und Schrecken. Und in gewisser Weise spielt es auch für die Tat, die jetzt im Prozess verhandelt wurde, eine Rolle. Denn dass die geliebte Tochter verschollen ist, hat in der Familie zugleich zu Verlustängsten geführt und die Eltern zunehmend entzweit. Bis die Mutter die Scheidung wollte – und der Vater offenbar nicht ertragen konnte, wie sie ihm „die kalte Schulter zeigte“.

Hilals Vater zu Bewährungsstrafe verurteilt

Fakt ist, dass Kamil E., der Vater von Hilal, seine Ehefrau Ayla und seine Tochter Fatma am 5. April dieses Jahres mit einem Messer verletzte und ihnen Schnittwunden an den Händen zufügte. Er hat die Taten gestanden. Aber er habe seine Frau nicht umbringen wollen, hat der Angeklagt betont. Doch das Gericht, das den Fall verhandelt hat, ist überzeugt, dass „diese Angelegenheit auch ganz anders hätte ausgehen können, nämlich mit der getöteten Frau E.“, sagte die Kammervorsitzende an die Adresse des Angeklagten.

Das Gericht verurteilte den 57-Jährigen wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Das Urteil wurde sofort rechtskräftig. Und Kamil E. kam aus der Untersuchungshaft frei und wurde von seiner Familie, die den Prozess verfolgt hatte, in Empfang genommen, mit Umarmungen, mit Erleichterung – und auch unter Tränen.

Entscheidende Augenblicke der Tat bleiben unaufgeklärt

Ursprünglich war die Tat als versuchter Totschlag und gefährliche Körperverletzung angeklagt. Doch auch die Staatsanwaltschaft kam am Ende der Beweisaufnahme zu der Überzeugung, dass ein versuchtes Tötungsdelikt nicht sicher nachzuweisen sei. Denn was sich genau in der Bahrenfelder Wohnung abgespielt hat, konnte nicht aufgeklärt werden. Der Angeklagte hatte über seine Verteidigerin angegeben, er könne sich nicht daran erinnern, ein Messer aus der Küche geholt und gegen seine Frau gerichtet zu haben. „Ich erinnere mich erst, als Fatma mich anschrie“, hieß es über das Eingreifen der gemeinsamen Tochter. Und die beiden Geschädigten nahmen von ihrem Recht Gebrauch, als Angehörige nicht gegen Kamil E. aussagen zu müssen.

Einiges spricht nach Überzeugung des Gerichts dafür, dass es auch zum Äußersten, nämlich zum Tod von Ayla E., hätte kommen können. Durch die Trennungsabsichten seiner Frau sei der „in seinem Ehrgefühl verletzte Mann in Rage geraten“. „Wir glauben, dass er vorhatte, seine Frau zu töten“, so die Richterin. So hatte die 56-Jährige laut einem Nachbarn, der den Tumult in der Wohnung gehört, bei der Familie geklingelt und die Streitenden beruhigt hatte, über Kamil E. gesagt: „Der wollte mich umbringen.“ Darüber hinaus gab es einen Notruf der Tochter Fatma an die Polizei, in dem die junge Frau panisch rief, dass der Vater die Mutter habe töten wollen. Und schließlich ging auch eine Aussage des Mannes selbst in diese Richtung: Bei seiner Festnahme sagte Kamil E. zu Polizisten, dass seine Frau ihn immer wieder provoziert habe und er „es jetzt zu Ende“ habe bringen wollen.

Doch wegen der fehlenden Aussagen der Ehefrau und der Tochter im Prozess blieben entscheidende Augenblicke der Tat unaufgeklärt, betonte die Vorsitzende Richterin – so unter anderem, ob der 57-Jährige überhaupt Messerstiche gegen die Körper der Opfer zu führen versucht hat. Die Verletzungen an den Händen von Ayla und Fatma E. können auch dadurch entstanden sein, dass sie mit dem Mann rangelten, um ihm das Messer zu entwinden. Es könne laut Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen zudem nicht ausgeschlossen werden, dass die Tat im Affekt geschehen und die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten erheblich gemindert sei.

Seele von Kamil E. nach Verschwinden der Tochter „kaputt“

Das Urteil werde zur Bewährung ausgesetzt, weil das Gericht „keine Zweifel“ habe, betonte die Vorsitzende, dass Kamil E. eine positive Prognose gestellt werden könne, vor allem weil er den Rückhalt durch die Familie habe. „Es ist eine besondere Tragödie, die sich hier abgespielt hat.“

Wie es weitergehen soll, hat die Verteidigerin des Angeklagten gesagt: „Die Eheleute werden als Ehepaar auseinandergehen und in zwei getrennten Wohnungen leben.“ Doch das Schicksal der vermissten Hilal erschüttert sie nach wie vor gemeinsam. Wie es Kamil E. nach dem Verschwinden der Tochter ergangen ist, hat er dem Sachverständigen anvertraut. Alles sei ihm genommen worden, sagte der Mann. Und seine Seele sei kaputt.