Essen. Soziologe Hartmut Rosa ist alarmiert: Erschöpfung bei der Arbeit nimmt extrem zu, sogar wenn die Last gleich bleibt. Die Gründe liegen woanders.

Wenn man beschreiben sollte, wie sich für viele das Leben am Ende des Jahres 2023 anfühlt, dann könnte man es so beschreiben: Wie eine einzige, große To-do-Liste! Effektivität bestimmt das Handeln – und viele von uns haben das Abhaken von Aufgaben aus dem Beruf erfolgreich auch aufs Privatleben übertragen: Rechnungen schreiben? Check! Korrespondenz mit Müller erledigen? Check! Kind zum Reitunterricht bringen? Check! Abendessen für die Familie machen? Check? E-Mail an den Chef schreiben? Check!

Hartmut Rosa (58) beobachtet seit Jahren, wie das Leben nach To-do-Listen bei immer mehr Menschen zu einer immer größeren Erschöpfung führt (hier ein Test zum eigenen Erschöpfungsgrad). Der Soziologe der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Max Weber Kollegs der Uni Erfurt hat ein paar wertvolle Ratschläge, wie man effizient arbeiten kann, ohne unter der Diktatur der To-do-Listen zusammenzubrechen.

Herr Rosa, Stress durch übervolle To-do-Listen ist ja schon seit einigen Jahren Ihr Thema. Aber wie hat sich die Lage seitdem entwickelt?

Rosa: Die Lage ist jedenfalls nicht besser geworden. In der Corona-Phase hat der Stress vorübergehend abgenommen, das haben wir dann ganz schnell wieder gefüllt mit digitalen Terminen. Und dann sind zwei Trends zu beobachten. Zum einen: Manche haben in der Lockdown-Phase neue Hobbys angefangen, etwa ein Gärtchen angemietet oder Klavierstunden genommen. Das machen sie jetzt weiter. Gleichzeitig ist das alte Leben wieder in den Gang gekommen. Und da gibt’s Nachholeffekte. Was zu einer gewissen Verdichtung geführt hat. Zum anderen ist zu beobachten: Der Erschöpfungsgrad hat zugenommen. Selbst wenn die To-do-Listen nicht größer geworden sind, hat sich das Gefühl, dass also alles zu viel geworden ist, intensiviert.

Das müssen sie erklären: Es ist also auf dem Papier gleich viel zu tun, aber wir sind trotzdem erschöpfter davon?

Soziologe Hartmut Rosa von der Friedrich-Schiller-Universität-Jena schlägt Alarm, weil die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben immer stärker eingerissen werden - und wir auf eine 24/7-Gesellschaft zusteuern, in der sich alles gleich anfühlt - und die uns immer mehr erschöpft.
Soziologe Hartmut Rosa von der Friedrich-Schiller-Universität-Jena schlägt Alarm, weil die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben immer stärker eingerissen werden - und wir auf eine 24/7-Gesellschaft zusteuern, in der sich alles gleich anfühlt - und die uns immer mehr erschöpft. © Universität Jena | Anne Günther

Viele Aufgaben zu haben, nehmen Menschen nicht automatisch als problematisch wahr. Ich sage immer: Die Menschen rennen auch gerne. Vorausgesetzt: Es gibt so etwas wie eine Ziellinie. Eine Erklärung für die Erschöpfung liegt in der Eintrübung der Zukunftshorizonte. Es gibt derzeit das Gefühl, dass wir nicht auf eine bessere Zukunft zulaufen, sondern auf eine schlimmere, wegen der Klimakrise oder wegen Rückkehr der Kriege. Man hat das Gefühl, dass man nur noch vor einem Abgrund wegläuft.

Arbeitnehmer und Studierende in der Krise, weil die Zukunftsaussicht fehlt

Wir haben also keinen positiven, sondern eher einen panischen Stress?

Da ist ein Gefühl von panischem Weglaufen, etwa vor der ökonomischen Eintrübung einschließlich Inflation, plus Krieg, plus Klimakrise. Untersuchungen zur Mental Health von Studierenden liefern alarmierende Daten – übrigens auf der ganzen Welt. Bei Schülern und Studierenden sind die Daten zur psychischen Gesundheit katastrophal: Burn-out, Angst- und Stresserkrankungen, Zwangsstörungen bis hin zu suizidalen Gedanken. Das Erstaunliche ist: Die objektive Belastung durch den Lehrstoff hat gar nicht zugenommen. Das Erschöpfungsgefühl scheint andere Ursachen zu haben. Eine andere Untersuchung sagt, dass 70 Prozent der Erwachsenen davon ausgehen, dass ihre Kinder eine schlechtere Zukunft haben werden als sie selbst. Da würde ich einen Zusammenhang herstellen wollen.

Schattenseiten des Homeoffice: Erreichbarkeit 24 Stunden am Tag

Die Homeoffice-Zunahme in der Corona-Zeit hat dazu beigetragen, dass wir nicht mehr so stark zwischen Arbeit und Privatleben trennen. Ist das ein negativer Trend?

Für manche ist Homeoffice eine ganz große Entlastung, weil sie mehr von zu Hause tun können. Aber es gibt mehrere Probleme. Eines davon ist: Die verschiedenen Sphären, die unsere To-do-Listen füllen, vermischen sich. Also zum Beispiel Familie, Arbeit, ehrenamtliche Tätigkeiten oder Freizeit. Früher hatten all diese Sphären ihre bestimmten Zeitfenster, die Arbeit von neun bis fünf Uhr, dann vielleicht zwei Stunden etwas anderes, danach kam die Familie. Eigentlich hatte alles eine feste Zeitordnung. Jetzt hingegen nähern wir uns einer 24/7-Gesellschaft, das heißt: Ich kann rund um die Uhr arbeiten, mich aber auch rund um die Uhr um die Kinder kümmern. Das Homeoffice hat die räumliche und die zeitliche Distanz zur Arbeit aufgehoben – zumindest für die, die es machen können. Diejenigen haben das Problem, dass jetzt alle Lebensbereiche gleichzeitig auf sie eindrängen, Arbeit, Kinder, Eltern, Verein. Ich kann in keiner dieser Sphären mehr auf Standby schalten. Das war früher anders: Wenn ich bei der Arbeit war, stand die Familie auf Standby, man konnte sagen: „Jetzt geht’s nicht, ich bin bei der Arbeit.“ Und wenn ich zu Hause war, stand die Arbeit auf Standby.

Wer keine klaren Grenzen setzt, für den fühlt sich alles gleich an

Es geht also nicht nur um die Frage, ob es mehr Arbeit geworden ist?

Genau, es geht vielmehr darum, dass sehr viele unserer Aktivitäten, die gleiche Form annehmen wie Arbeit. Und die deshalb auch mit dem gleichen Gefühl verbunden sind. Mein Lieblingsbeispiel ist eine To-do-Liste, auf der steht: Du musst noch diesen einen Bericht verfassen, noch einen Antrag schreiben oder den Arbeitskalender führen. Und dann steht darauf aber auch noch: Außerdem hat mein Sohn Geburtstag oder deine Schwiegermutter hat zum Essen eingeladen und Du musst zum Yoga-Training. Das hat gefühlsmäßig oft die gleiche Ladung: „Das jetzt auch noch!“ Dass es so ist, kann man auch erklären: Weil im Prinzip alle unsere Aktivitäten entweder der Ansammlung von kulturellem Kapital dienen, zum Beispiel Bildung, oder von Körperkapital wie Fitness und Gesundheit. Oder von sozialem Kapital: Wir sollten auf diese Party gehen oder die Nachbarn mal einladen, etwas in der Art, was also im Prinzip das Erfüllen einer sozialen Erwartung ist. Wir sind eben nicht immer dabei, Geld zu verdienen, aber wir versuchen kulturelles Kapital, soziales Kapital, Körperkapital anzusammeln. Wenn ich also eine völlige Freizeitaktivität wie „Du solltest mal wieder Tennisspielen.“ habe, fühlt sich das für manche ähnlich an wie: „So solltest noch diesen Bericht schreiben.“

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So wird also alles zur lästigen Pflicht?

Wenn man sich einem Burn-out nähert, hat man genau diesen Zustand: Was eigentlich als schön galt, kommt einem wie ein lästiger Termin vor. Wenn alles das gleiche Gefühl auslöst auf der To-do-Liste, ist das ein Alarmsignal.

Ist das, was man Workation nennt, nicht die Krönung dessen? Als Vermischung von Urlaub und Arbeit…

Workation: In der Vorstellung eine gute Idee, an besonders schönen Orten zu arbeiten, fast wie ein Traum. In der Praxis führt es aber dazu, dass sich nicht nur die Arbeit wie Urlaub anfühlt, sondern auch der Urlaub wie Arbeit.
Workation: In der Vorstellung eine gute Idee, an besonders schönen Orten zu arbeiten, fast wie ein Traum. In der Praxis führt es aber dazu, dass sich nicht nur die Arbeit wie Urlaub anfühlt, sondern auch der Urlaub wie Arbeit. © Kittiphan - stock.adobe.com | kitzcorner

Natürlich ist es im Prinzip für Menschen schöner, in der schöneren Umgebung zu arbeiten als in einer hässlichen oder in einer verhassten. Deshalb wäre es falsch zu sagen, Workation wäre total falsch. Aber die Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben bringt eben auch hier die schon erwähnten Probleme mit sich.

Flucht ins Kloster, auf die Berghütte - oder sogar ins Gefängnis

Was wäre eine gute Strategie gegen die zunehmende Erschöpfung? Reicht es schon, die Sphären wieder strikt voneinander zu trennen?

Es hilft, sich ganz gezielt Freiräume zu schaffen. Der Klassiker: Leute, die für drei Wochen ins Kloster gehen, um da einfach mal eine Auszeit zu haben, wo man sich von allem abschneidet. Oder wenn sie auf einer Berghütte sind, in der sie nicht mal Internetempfang haben, vielleicht nicht mal Elektrizität. Dann wird die Weltreichweite, ganz gering, die Möglichkeiten schrumpfen. Tatsächlich erfahren das Menschen häufig als Befreiung. Das ­irrste Beispiel sind Studierende aus Korea, dort ist der Druck auf junge Leute extrem hoch. Dort gibt’s das Phänomen, dass Studierende Verbrechen mittlerer Schwere begehen, um ins Gefängnis zu kommen. Sie sagen: Das ist der einzige Ort, an dem ich mal frei sein kann.

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Gibt es auch einfache, praktikable Empfehlungen?

Man kann sich solche Standby-Situationen selbst herstellen. Indem ich sage: Samstags gehe ich nicht an meinen E-Mail-Account oder schaue nicht ins Internet. Das ist ein Tipp, den ich seit vielen Jahren gebe: Man sollte sich Zeiträume einrichten, das können Stunden oder Tage sein, wo man einfach nichts in den Kalender schreibt und es dann auch so macht. Man sagt: Ich muss jetzt gar nichts tun, was in irgendeinem Sinn denn nützlich ist.

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