Bielefeld. Geburtstrauma statt Babyglück: Wieso Vanessa aus NRW die Geburt ihres Sohnes als Alptraum erlebt hat – und was ihr danach geholfen hat.
Während Vanessa völlig erschöpft im Bett liegt, wird es im Kreißsaal immer hektischer. Vor ihr taucht nun nicht mehr nur das Gesicht ihrer Hebamme, sondern auch das einer Oberärztin und eines Assistenzarztes auf. Künstliches Oxytocin, Saugglocke. Fachbegriffe, die Vanessa nichts sagen, schwirren durch den Raum. Es ist 17.20 Uhr, als die Ärzte eine Entscheidung treffen: Notkaiserschnitt.
Innerhalb von Sekunden ist Vanessa auf dem Weg in den OP. Ihr Mann bleibt alleine zurück, bricht aus Sorge um seine Frau und sein ungeborenes Kind zusammen. Um 17.23 Uhr wird ihr Sohn auf die Welt geholt. Wenn Vanessa sich an die Geburt ihres ersten Kindes erinnert, spricht sie von Schmerzen, Ohnmacht, Übergriffen – und von einem Trauma, mit dem sie noch heute, zwei Jahre später, zu kämpfen hat.
Geburtstrauma: Bis zu 30 Prozent aller Frauen betroffen
Studien zufolge erleben bis zu dreißig Prozent aller Frauen eine traumatische Geburt. Von einem Geburtstrauma sprechen Expertinnen und Experten, wenn Mütter nach der Geburt durch die Erfahrungen im Kreißsaal dermaßen traumatisiert sind, dass diese sie psychisch und/oder physisch langfristig belasten.
Ob sich durch die Geburt ein Trauma entwickelt, hänge zum einen davon ab, wie sie verläuft: Kommt es im Kreißsaal zu Komplikationen und das Leben von Mutter und Baby gerät in Gefahr, könne das tiefe Ängste auslösen. Hinzu kommen das Gefühl völliger Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins sowie körperliche Schmerzen.
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„Wie ein Käfer lag ich auf dem Rücken. Ohnmächtig zu handeln oder einzugreifen“, sagt auch Vanessa im Rückblick. Sie wurde mitten in der Corona-Pandemie schwanger. Anstatt mit ihren Freundinnen im Café über die aufregende Zeit zu sprechen oder im Geburtsvorbereitungskurs andere werdende Mütter kennenzulernen, verbrachte sie die Schwangerschaft allein zuhause.
Neben der sozialen Isolation machten ihr übermäßige Übelkeit und Schwangerschaftsdiabetes zu schaffen. „Ich würde nicht sagen, dass die Schwangerschaft gut war. Es war eher so ein Warten darauf, dass das Baby endlich kommt.“
Auf die Geburt bereitete sie sich mit der Hilfe einer Psychologin vor und besuchte einen Online-Geburtsvorbereitungskurs. Denn dass es kompliziert werden könnte, wusste Vanessa aus Erfahrung: Sie selbst kam per Notkaiserschnitt auf die Welt. „Ich hatte da also schon Respekt vor, aber keine Angst oder so.“ Im Januar 2021 platzte die Fruchtblase, zwei Wochen vor dem errechneten Termin.
Ihr Mann fuhr sie zum Krankenhaus, dort verbrachte sie die Nacht. Allein. Ihr Mann durfte erst drei Stunden später, in den frühen Morgenstunden dazukommen. Corona-Schutzmaßnahme. „Zuerst lief alles gut. Die Wehen kamen in großen Abständen. Ich fühlte mich wohl, hatte einen schönen Blick aus dem Fenster und auf die verschneite Landschaft.“
Als die Geburt in die entscheidende Phase kam, trat eine neue Hebamme ihre Schicht an. „Rückblickend habe ich das Gefühl, dass wir nicht wirklich auf einer Wellenlänge waren“, sagt Vanessa. Ohne Absprache wurde sie an einen Wehentropf gehängt, was jedoch nicht zu mehr Wehen, sondern zur Verschlechterung der Herztöne ihres ungeborenen Kindes führte.
„Das ist ein Nachteil von künstlichem Oxytocin, über den wir nicht informiert wurden.“ Die Saugglocke kam zum Einsatz. „Im Geburtsvorbereitungskurs hatte man uns dazu nur gesagt: Über sowas Schlimmes reden wir hier nicht.“ Dann der Notkaiserschnitt unter Vollnarkose. Vanessa kam erst Stunden später wieder zu sich, sah ihren Sohn am späten Abend zum ersten Mal – auf der Kinderintensivstation. Ihr Sohn musste wegen des Geburtsstresses Atemstarthilfe erhalten, wurde zur Überwachung verlegt.
Wochenbettdepression: Erinnerungslücken und Leere
„Ich weiß noch, wie ich meine Eltern angerufen habe, um ihnen zu erzählen, dass er auf der Welt ist. Aber wie es war, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, das weiß ich nicht mehr.“ Erinnerungslücken prägten die gesamte erste Zeit als Familie für Vanessa, genauso wie das Gefühl von Leere. „Ich kann mich nur teilweise an die Wochenbettzeit erinnern, aber da sind keine Emotionen. Mein Mann hat die ganze Zeit gestrahlt. Ich war zwar auch dankbar über unseren gesunden Sohn, aber ich konnte mich nicht so richtig freuen.“
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Online suchte sie nach Hilfe, las zum ersten Mal von dem Begriff, der ihren Gefühlen einen Namen gab und ihr zeigte, dass sie nicht allein war: Wochenbettdepression. Sie begann eine Psychotherapie, dank der sich ihr Zustand nach und nach besserte.
„Ich würde mich mit aller Kraft dagegen wehren, nochmal in einen Kreißsaal zu müssen“
„Meine Erkrankung wurde ganz klar durch mein Geburtstrauma ausgelöst“, sagt sie heute. Dass sie die Geburt als fremdbestimmt erlebt hatte, war für sie das Schlimmste. „Ich verstehe, dass es hektisch war und die Ärzte schnell Entscheidungen treffen mussten. Aber es gehört schon dazu, auch mit mir darüber zu sprechen, mich wenigstens kurz über die Risiken zu informieren und zu fragen, ob ich damit einverstanden bin. Das macht man bei jeder anderen OP ja auch so.“
Die Verantwortung sieht Vanessa auch bei der Geburtsvorbereitung. Dass in ihrem Kurs nur über schöne Dinge gesprochen wurde, um den Frauen keine Angst zu machen, findet sie problematisch. Wochenbettdepression, Saugglocke, Notkaiserschnitt: Mögliche Komplikationen und Schwierigkeiten dürften nicht verschwiegen werden, damit Schwangere im Ernstfall vorbereitet sind, fordert Vanessa.
Sie selbst wuchs nach und nach in ihre Mutterrolle und die kleine Familie hinein. Wenn es nach ihrem Mann ginge, würde diese auch noch weiterwachsen. „Klar wäre noch ein Kind schön, unser Sohn war ja auch ein absolutes Wunschkind“, sagt Vanessa. „Aber die Geburt war so ein traumatisches Erlebnis, das ich gerade erst überwunden habe. Ich würde mich wahrscheinlich mit aller Kraft dagegen wehren, nochmal in einen Kreißsaal zu müssen.“
Geburtstrauma: Hilfe für Betroffene
Hilfe finden Betroffene zum Beispiel über den Verein „Schatten & Licht“. Er bietet einen Überblick über Expertinnen und Experten, an die sich Mütter wenden können, und organisiert zudem bundesweit Selbsthilfegruppen. Auf der Website können Frauen außerdem einen Selbsttest durchführen. Dieser kann dabei helfen, die Erkrankung nach der Geburt selbst besser einschätzen zu können.
Die Vereine „Mother Hood“ und „ISPPM“ setzen sich ebenfalls für sichere Geburten und die Rechte der Familien ein. Um Mütter nach einer schwierigen Geburtserfahrung zu unterstützen, haben sie ein Hilfetelefon eingerichtet. Unter der 0228/92959970 können Betroffene mittwochs von 12 bis 14 Uhr und donnerstags von 19 bis 21 Uhr mit Expertinnen über ihre Erfahrungen sprechen.
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