Essen. Mangas und Anime sind weltweit beliebt. Wie sie entstanden sind, wer der „König des Mangas“ ist – und warum auch Heidi und Pinocchio dazu zählen.
Ein kleiner weißer Löwe, der König des Dschungels werden wollte. Ein Mädchen, deren Welt die Berge waren. Eine Puppe aus Holz, die sich nichts lieber wünschte, als ein echter Junge zu sein. Und schließlich auch noch ein Raumschiffkapitän, der im All auf Verbrecherjagd ging:
Vor knapp 50 Jahren wurde das Kinderprogramm des deutschen Fernsehens plötzlich von einer Vielzahl von Figuren bevölkert, die weder Kinder noch Erwachsene so jemals gesehen hatten: große Augen, niedliche runde Körperformen, stilisierte Frisuren, und vor allem merkwürdige Bewegungen, die an ein Papiertheater mit starrem Hintergrund erinnerten. Allen war zudem eins gemeinsam: Sie stammten allesamt nicht aus der perfekten Trickfilm-Illusionsmaschine Hollywoods, sie waren „made in Japan“.
Japan seit den 1950ern im Bann der Manga und Animes
Den jungen und jugendlichen Zuschauern von „Kimba, der weiße Löwe“, „Heidi“, „Pinocchio“ oder „Captain Future“ (und häufig auch ihren Eltern) schien das aber völlig egal zu sein. Sie saßen gebannt vor dem Bildschirm und verfolgten die meisterhaft erzählten Geschichten ihrer Heldinnen und Helden.
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Genau so war es vorher bereits dem Publikum in den USA gegangen – und ganz am Anfang auch den Zuschauern der Originalversionen im Land der aufgehenden Sonne. Denn ganz Japan befand sich schon seit den 1950er-Jahren im Bann einer kulturellen Revolution namens Manga und Anime. Sprich: Comics und Trickfilmen aus heimischer Produktion, mit einfachsten technischen Mitteln hergestellt, aber mit großer kreativer Kraft.
„Dragon Ball“ und „Sailor Moon“ lösten einen Hype aus
Nach den Filmen kamen auch die Comichefte und Bücher im Westen groß raus: „Seitdem Serien wie ‚Dragon Ball‘ und ‚Sailor Moon‘ in den späten 1990er-Jahren den Boom auslösten, steht ‚Manga‘ gemeinhin für Hauptfiguren mit hohem Niedlichkeitsfaktor, eine hochgradig kodifizierte Bildsprache und Erzählstrukturen, die letztlich an Video- oder Computerspiele erinnern“, so die deutsche Japanologin und Kulturwissenschaftlerin Jaqueline Berndt.
Gerade weil sich Mangas von den westlichen Comics so stark unterscheiden, stoßen viele Serien in Europa auf geballtes Interesse. Im Ursprungsland selbst sind nicht alle Figuren so niedlich und kindgerecht wie viele denken, da es äußerst unterschiedliche Zielgruppen gibt.
Was hier einen exotischen Luxus darstellt, hat in Japan nämlich einen ganz anderen Stellenwert: Ursprünglich waren Mangas einfach eine Art der Ersatzbefriedigung für Jugendliche und junge Erwachsene in der wirtschaftlich schwierigen Nachkriegszeit Japans.
„Es gab damals einfach nicht sehr viel zu tun – günstige Ablenkungen wie Videospielhallen oder Karaokebars waren noch Zukunftsmusik, und der moderne Lifestyle in Form von Farbfernsehen, Auto, Klimaanlage lag für viele Menschen erst recht weit außerhalb des finanziell Möglichen“, berichtet der in Japan lebende US-Autor und Übersetzer Matt Alt, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten damit beschäftigt, Mangas und Videospiele aus Fernost für ein internationales westliches Publikum aufzubereiten.
Zeichner Osamu Tezuka: der „Gott des Mangas“
Finanzielle Not war es dann schließlich auch, die in diesem Moment den Zeichner Osamu Tezuka auf den Plan treten ließ, später auch ehrfurchtsvoll „Gott des Mangas“ genannt. Das Nachwuchstalent war gerade mal 18 Jahre alt, als für wenig Geld ein erster Manga-Klassiker entstand: Es war die in schnellen Abfolgen erzählte Abenteuergeschichte „Shin Takarajia“, eine Adaption von Stevensons Jugendklassiker „Die Schatzinsel“, vermischt mit Elementen von „Tarzan“ und anderen Abenteuergeschichten.
Schon mit diesem Comic wirkte Tezuka stilbildend: „Er arbeitete mit einer Art Verzögerungstaktik, einzelne Aktionen seiner Helden wurden über mehrere Bildrahmen gestreckt, so dass man diesen Manga eher wie einen Film lesen konnte, ganz anders als die Comicstrips, die man aus Zeitungen kannte“, berichtet Alt.
„Manga war mehr als nur ein Groschenheft“
Ungewöhnlich schien aber auch die Länge: Mit 200 Seiten war schon dieser frühe Manga etwas, das man heute „Graphic Novel“ nennen würde. Allerdings stellte man sich diese Bücher in Fernost nicht ins Regal – die in hoher Auflage erscheinenden Comicgeschichten wurden von kommerziellen Leihbibliotheken für einen geringen Preis ausgeliehen und zirkulierten jahrelang von Leser zu Leser.
Die große Beliebtheit der ersten erfolgreichen Serien war eine Art Weckruf für die japanische Unterhaltungsindustrie: „Comics konnten offenbar mehr sein als nur billige Ablenkung vom Alltag, die Handlung musste nicht auf ein Bild konzentriert werden, nicht mal auf eine Seite. Manga war mehr als nur ein Groschenheft, es fühlte sich plötzlich an wie eine ernsthafte Alternative zu Literatur und Film“, so Populärkultur-Vermittler Matt Alt.
Während das Interesse im Westen auch im 21. Jahrhundert noch wächst, hat die klassische Manga-Kultur es in der Ursprungsregion inzwischen deutlich schwerer – denn die Displays von Smartphones und Tablets haben das Spielfeld radikal verändert: „Zumindest in Asien ist die gedruckte Mangaerzählung dabei, das Terrain der Jugendkultur zugunsten digitaler Medien zu räumen“, beobachtet Kulturwissenschaftlerin Berndt. Die mediale Konkurrenz reicht inzwischen von der Gaming-Kultur bis hin zu Streaming-Serien, so dass die Durchschnittsleser meist der Generation der Über-30-Jährigen angehören.
Wie stark sich die medialen Grenzen verwischen, zeigt der Erfolg der „Pokémon“-Figuren: Ursprünglich als Videospiel für Nintendos mobile Spielekonsole „Game Boy“ gestartet, wurden die „Pocket Monster“ inzwischen auch als gezeichneter Manga wie auch als TV-Fernsehserie weltweit vermarktet, mal ganz abgesehen vom Merchandising in Form von Sammelkarten, Plüschtieren und sonstigen Kult-Objekten. Stark im Umbruch ist derweil auch das Konsumverhalten der Fans selbst.
Der klassische Leser, so Jaqueline Berndt, sei im digitalen Zeitalter eher zum „User“ geworden, was durch die vielen erzählerischen und grafischen Leerstellen der Manga-Kultur besonders einfach gemacht werde: „Leser schreiben Geschichten um beziehungsweise weiter, und werden mittels Fan Art, Online-Kommentaren und Cosplay-Rollenspiel zu Mitgestalterinnen und Mitgestaltern“.
Der klassische Manga der Nachkriegszeit
Den klassischen Manga der Nachkriegszeit könnte man aber genauso gut als eine Art Fan-Kunst bezeichnen, denn schon Manga-Göttervater Tezuka pflegte zwei persönliche Leidenschaften in puncto Populärkultur, einmal für das traditionelle Variété einer Frauentanzgruppe namens Takarazuka, zum anderen für Walt Disneys abendfüllende Zeichentrickfilme wie „Schneewittchen“ oder „Bambi“.
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Vieles davon kam dann tatsächlich auch auf der Leinwand zusammen, als Tezuka seinen Erfolgsmanga „Astro Boy“ in den 1960er-Jahren in eine TV-Serie für das japanische Fernsehen umwandelte. Allerdings musste dabei improvisiert werden, denn für die auf Pinocchio-Motiven basierende Science-Fiction-Geschichte stand nur wenig Geld zur Verfügung: „,Astro‘ Boy war eine improvisierte Low-Budget-Produktion – die Serie nutzte im Vergleich zu einem Standard-Trickfilm nur ein Drittel der Bildfolgen pro Sekunde“, so Matt Alt.
Die Bildwirkung erschien dermaßen auffällig, dass Branchenprofis sich über die „Ausschneidepuppen“ lustig machten. Den Kindern und Jugendlichen in Tokio, Yokohama oder Osaka aber war das alles egal, sie kannten zwar hochwertige TV-Trickfilme in Form von US-Importen wie „Popeye“ oder „Familie Feuerstein“, doch nun gab es plötzlich die Filmversion eines ihrer nationalen Lieblings-Mangas, was Einschaltquoten von 40 Prozent ermöglichte.
Damit war zugleich quasi über Nacht ein neues Genre geboren: „Weil diese Serie eben die erste war, die im Fernsehen gezeigt wurde, bestimmt sie bis heute, ein halbes Jahrhundert später, das gesamte Business-Modell und die künstlerischen Standards der japanischen Animationsfilm-Industrie — übergroße Augen, ein wilder Hair-Style, theatralische Posen, und die statisch wirkenden Bildfolgen“, so Matt Alt.
Dafür bürgerte sich schnell ein neues Wort ein: „Anime“. Mit einem gewissen Stolz distanzierte man sich auf diese Weise von der westlichen „animeshon“, sprich den Animationsfilmen aus Hollywood. Die waren zwar technisch weit überlegen. Ironischerweise erwies sich Anime dann aber gerade wegen der günstigen Produktionskosten auch international als durchaus konkurrenzfähig.
„Astro Boy“ hatte eine Auslöserfunktion
Auch hier hatte „Astro Boy“ eine Auslöserfunktion: Ein Mitarbeiter des US-Senders NBC entdeckte die Serie zufällig, als er in einem Tokioter Hotel den Fernseher einschaltete. Die Adaption fand begeisterte Aufnahme beim westlichen Publikum und löste eine ganze Welle von Importen aus, darunter etwa „Kimba, der weiße Löwe“.
Für das westliche Publikum, bald auch in Europa, wurden die Anime-Serien allerdings sorgfältig überarbeitet, ja eigentlich sogar gereinigt – deftiger Humor, Gewaltdarstellungen, genauso aber typisch japanische Kulturelemente, Anspielungen und Symbolik schnitt man kurzerhand heraus. Die Herkunft der Trickfilme sollte den Zuschauern erst gar nicht bewusst werden.
In den 1970er-Jahren wurde das System der kulturellen Anpassung sogar noch verfeinert, indem Zeichentrickfilm-Serien „made in Japan“ von Anfang an als internationale Koproduktionen geplant wurden. Dabei traten dann auch die westdeutschen Rundfunkanstalten als Auftraggeber auf den Plan, allen voran das ZDF.
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Den Anfang machte 1974 „Wicki und die starken Männer“ (japanisch: „Chiisana Baikingu Bikke“), nach den Abenteuern des schlauen Wikingerjungen nach dem gleichnamigen schwedischen Jugendbuch folgten im Jahrestakt die Klassiker-Adaptionen „Biene Maja“ (japanisch: „Mitsubachi Maya no Boken“) und „Pinocchio“ (japanisch: „Pikorino no boken“).
Manga und Anime erobern in Japan immer neue Zielgruppen
In Japan selbst hatten sich Manga und Anime zu diesem Zeitpunkt bereits weiterentwickelt – neben speziellen Versionen für Jungen („Shonen“) und Mädchen („Shojo“) entwarf eine neue Generation von „Mangaki“, also Manga-Zeichnern, unter dem Namen „Gekigi“ auch Geschichten für Erwachsene, wobei Themen bedient wurden, die damals in den USA oder Europa als nicht „jugendfrei“ galten.
Im fernen Osten galten dagegen andere kulturelle und moralische Standards. Zugleich wuchs aber seit den 1980er Jahren auch im Ausland das Interesse an erkennbar japanischen Produktionen – für meist auf Manga-Vorlagen basierende TV-Serien wie „Akira“, „Naruto“ oder „Sailor Moon“ wurde der Begriff „Anime“ nun quasi zu einer Art Qualitätssiegel.
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Von Geheimtipps entwickelte sich dieser Bereich der Populärkultur zum „Mainstream“, das Internet und vor allem die sozialen Medien halfen schließlich bei der Verbreitung mit, und förderten die Entstehung einer ausdifferenzierten Fankultur. Später kamen auch noch abendfüllende Spielfilme für das Kinopublikum hinzu. Streifen wie „Prinzessin Mononoke“ oder „Chihiros Reise ins Zauberland“ verzauberte Zuschauer jeden Alters.
Heutzutage bedienen immerhin mehr als 400 japanische Anime-Studios einen globalen Markt – mit erheblichen Folgen. Denn zwei Drittel aller Trickfilmproduktionen weltweit stammen aus dem Mutterland der Manga-Kultur. Und ähnlich wie bei der K-Pop-Welle, also koreanischer Popmusik, macht bei japanischen Trickfilmen wie auch bei Comics nun gerade die Erkennbarkeit als „Original“ einen wichtigen Reiz für die Fans des Genres aus.
Beim „echten“ Manga ist der Titel deswegen auch auf der Rückseite abgedruckt, denn man blättert sich durch die in schwarz-weiß gehaltenen Geschichten auch in deutscher Übersetzung natürlich von hinten nach vorn – ganz nach japanischer Leserichtung.
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