Essen. Die größte Quelle für Mikroplastik findet sich in den Straßenschluchten der Städte: Abrieb aus Reifen und Bremsen. Die Daten aus NRW erschrecken.
Ärzte haben Mikroplastik inzwischen überall im menschlichen Körper gefunden: im Blut, in der Leber, im Darm, Herzen und sogar im Gehirn. Was Plastik dort anrichtet, welche Krankheiten es auslöst oder wie es auf das Immunsystem wirkt, all das ist weitgehend unerforscht. Doch woher stammen die mikroskopisch kleinen Plastikpartikel? Und wie kommen sie in den Körper?
Eine Studie des Centrums für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit an der Universität Hamburg und des Helmholtz-Zentrums Hereon zeigt nun: Die größte Quelle von Mikroplastik in der Hansestadt ist der Abrieb von Autoreifen, der als Feinstaub in den Straßenschluchten aufgewirbelt wird. Die Gefahr dabei: Einige Partikel sind so winzig, dass sie von Kindern und Erwachsenen eingeatmet werden können. Auch entlang der Verkehrsadern in Nordrhein-Westfalen sind die Menschen von Feinstaub und damit mutmaßlich auch von Mikroplastik-Belastungen betroffen, zeigen aktuelle Hochrechnungen des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV).
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Die Zahlen der Fachbehörde liegen dieser Redaktion vor. In den großen Städten an Rhein und Ruhr – Duisburg, Essen, Dortmund, Düsseldorf und Hagen – besteht demnach hochgerechnet im Schnitt 18 Prozent des Feinstaubs aus Reifen- und Bremsabrieb, teils ist der Anteil noch größer. Pro Jahr sind es bis zu über 30 Tonnen Feinstaub aus Abrieb, die in diesen Großstädten insbesondere an Kreuzungen oder an Ampeln durch das Abbremsen oder Beschleunigen von Fahrzeugen entstehen. Was Forscher wissen: Die Plastikpartikel aus dem Gummi mischen sich mit den Abrieben aus Bremsen und Kupplungen, werden als Stäube aufgewirbelt, durch die Luft getragen – und können damit auch in die Atemwege der Menschen gelangen.
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„Bei den Emissionen aus dem Straßenverkehr sind Abriebe aus dem Straßenverkehr die größte Quelle für Feinstaub. Das können wir so bestätigen. Dieses Ergebnis ist auf die Großstädte in NRW übertragbar“, sagt Sabine Wurzler, Leiterin des Fachbereichs Luftschadstoffmodellierung im LANUV. Aus den Hochrechnungen für NRW geht hervor, dass die Abriebe von Reifen, Bremsen, Kupplungen und Straße beim Feinstaub etwa 50 Prozent, beim Gesamtstaub sogar rund 70 Prozent der gesamten Verkehrsemissionen ausmachten.
Landesumweltamt: „Jeder Partikel kann krank machen“
Wie hoch der Anteil des Mikroplastiks im Feinstaub ist, kann das LANUV nicht beziffern: „Bei den Feinstaub-Messungen wird nicht unterschieden, woraus die einzelnen Partikel bestehen. Es gilt die Annahme, dass jeder Partikel krank machen kann, so Wurzler. Feinstaub könne tatsächlich sehr gesundheitsschädlich sein.
„Die Partikel sind etwa zehnmal kleiner als der Durchmesser eines menschlichen Haares“, verdeutlicht die Expertin. „Wir gehen anhand unserer Messergebnisse davon aus, dass bei den Immissionen, also das, was an der Nase ankommt, die Abriebe aus dem lokalen Kfz-Verkehr bis zu einem Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahresmittel zur Feinstaub-Belastung in einer Straßenschlucht beitragen.“
Wer in den Ballungsräumen in NRW an einer vielbefahrenen Straße wohnt oder entlang läuft, atmet demnach möglicherweise auch größere Mengen Mikroplastik ein. Diesen Schluss lassen Studien des Fraunhofer Instituts für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik in Oberhausen zu. Laut Erkenntnissen der Autoren gelangen in Deutschland pro Jahr rund 330.000 Tonnen Mikroplastik in die Umwelt. Der größte Verursacher sei der Abrieb von Autoreifen - vor allem von Pkw. Rund ein Drittel der Mikroplastik-Emissionen entfallen der Studie zufolge auf diese Quelle. In der Untersuchung hatte das Fraunhofer-Institut die freigesetzten Mengen von 51 Quellen errechnet.
Auswirkungen und Folgen der Belastungen werden massiv unterschätzt, glaubt Ralf Bertling, Mit-Autor der Umsicht-Studien. „Wir haben uns in der Debatte über Feinstaub viele Jahre lang darauf konzentriert, was aus dem Auspuff der Fahrzeuge kommt“, sagt Diplom-Ingenieur. „Heute wissen wir: Der Abrieb von Autoreifen, Bremsen und Kupplungen macht einen großen Teil des Problems aus. Wir gehen von jährlich rund 80.000 Tonnen Reifenabrieb in Deutschland aus. Heruntergerechnet auf die Bevölkerung ist das ein Kilo Abrieb pro Kopf und Jahr.“
Den Beweis aber erbringt letztlich der Autoreifen selbst: Am Ende seiner im Schnitt vier Jahre langen Lebenszeit hat er ein Kilo an Gewicht verloren.
Umsicht-Forscher: Viele offene Fragen zur Wirkung der Partikel
Wie viel reiner Kunststoff im Abrieb eines Autoreifens steckt, lasse sich nur schätzen, sagt Bertling. „Wir wissen, dass der Abrieb nie aus Materialien des Reifens allein besteht.“ Forscher beschreiben das, was als Abrieb zunächst auf der Straße bleibt, als eine Mischung aus Gummi, Plastik und Metallen. Es sind die gleichen Komponenten, die in der Reifenlauffläche stecken: Synthesekautschuk, natürlicher Kautschuk, Ruß, Silizium, verschiedene Additive und Zink, haben Bertling und die übrigen Autoren festgestellt. Wie die freigesetzten Reifenpartikel als Konglomerat wirken, sei weitgehend unerforscht.
Reifenabrieb besteht aus unterschiedlichen Partikelgrößen, erklärt Bertling. „Das kann sichtbarer Abrieb sein, also das, was als schwarze Spur auf der Straße zu sehen ist. Es entstehen aber zugleich ultrafeine, nicht sichtbare Partikel, die in der Luft schweben und eingeatmet werden können“, so der Experte. „Partikel, die lungengängig sind, haben eine Größe von weniger als zehn Mikrometern. Diese winzigen Reifenabrieb-Partikel machen einen Großteil der Feinstaubemissionen aus dem Straßenverkehr in Deutschland aus. Je nach Studie kann der Anteil an Feinstaub im zweistelligen Prozentbereich liegen.“
„Einmal dort angekommen, sind die Partikel nur schwer wieder zu entfernen.“
Doch nicht nur die Verteilung von Mikroplastik in der Luft ist hochproblematisch, haben Forscher der TU Berlin herausgefunden. Rund 60 Prozent des Abriebs gelangt demnach in die Böden, 20 Prozent ins Oberflächenwasser. Wenn es regnet, wird der Abrieb teilweise abgespült und sammelt sich in der Kanalisation. „Einmal dort angekommen, sind die Partikel nur schwer wieder zu entfernen“, bestätigt Bertling.
Das dabei entstehende Abwasser aber sei hoch problematisch, heißt es in der Studie der TU Berlin, denn meist würden Regenwasserüberläufe in Gebieten mit Trennsystemen von der Straßenoberfläche ablaufendes Wasser mitsamt dem Abrieb direkt in Gewässer einleiten. In Städten mit Mischsystemen, bei denen Regen- und Schmutzwasser gemeinsam abgeführt werden, kann das auch passieren, wenn bei Starkregen die Klärwerke überlastet sind.
Mikroplastik landet so über Bäche und Flüsse am Ende im Meer. Die Berliner Forscher schätzen, dass es zwei bis fünf Prozent des Reifenabriebs sind, die dorthin gespült werden. Die Menge des Abriebs, mit der Deutschland pro Jahr die Meere verunreinigt, haben die Forscher errechnet: über vier Millionen Kilogramm.
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Das Problem der Mikroplastik-Belastung im Wasser hatten die Experten aus dem LANUV schon früh auf dem Schirm. 2015 nahmen sie die ersten Proben aus dem Rhein. Auch die Emschergenossenschaft hatte in einem Projekt den Eintrag von Mikroplastik ins Abwasser untersucht.
Flächendeckende Messungen der Mikroplastik-Belastungen in der Luft aber gibt es bislang nicht: „Es gibt in Europa keinen gesetzlichen Auftrag, den Anteil von Abriebpartikeln aus dem Kfz-Verkehr oder Mikroplastik im Allgemeinen in der Luft zu ermitteln“, sagt Wurzler. Auch gebe es bislang für Mikroplastik keine Definition, keinen gesundheitlichen Schwellenwert – außer, dass die Bezeichnung Mikroplastik jene Partikel umfasst, die aus Kunststoff bestehen und kleiner als fünf Millimeter sind.“
Ingenieur Bertling glaubt, dass die Bedeutung des Themas unterschätzt werde. „Die Menge des Reifenabriebs, der Mensch und Umwelt belastet, ist immens“, sagt er. Dabei gebe es wirksame Maßnahmen, die die Entstehung von Reifenabrieb reduzieren. „Jetzt gilt es, die Maßnahmen zeitnah anzuwenden.“