Brüssel/Berlin. Ein neues EU-Gesetz verschärft massiv Grenzwerte für Luftschadstoffe. Nicht nur die Städte fürchten Probleme – und eine Klagewelle.
Schlechte Luft ist das größte Umweltrisiko für die Gesundheit: Obwohl sich in Deutschland die Luftqualität in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert hat, verursachen Schadstoffemissionen vor allem in Städten weiter schwere Krankheiten wie Asthma. In Deutschland könnte die Luftbelastung nach Einschätzung der Europäischen Umweltagentur für 40.000 vorzeitige Todesfälle im Jahr verantwortlich sein, europaweit sterben demnach sogar 300.000 Menschen vorzeitig. Vor diesem Hintergrund verschärft die Europäische Union jetzt die Auflagen zur Luftreinhaltung drastisch – zu drastisch, wie Kritiker warnen, die auch schon wieder Fahrverbote in Innenstädten befürchten.
Das Problem: In vielen Städten Deutschlands liegen die Messwerte an besonders belasteten Straßen
Mit der neuen Luftqualitäts-Richtlinie, die das EU-Parlament am Mittwoch beschlossen hat, werden sehr viel strengere Grenzwerte für bestimmte Schadstoffe festgesetzt, für Stickoxid und Feinstaub sollen sie bis 2030 ungefähr halbiert werden. Bei Stickoxid wird der Grenzwert für die durchschnittliche Jahresbelastung von heute 40 Mikrogramm je Kubikmeter Luft auf 20 Mikrogramm gesenkt. Die Grenzwerte für Feinstaub werden von heute 25 Mikrogramm auf künftig zehn Mikrogramm reduziert. Das folgt in der Tendenz neuen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), bleibt aber deutlich über deren Richtwerten.
Das Problem: In vielen Städten Deutschlands liegen die Messwerte an besonders belasteten Straßen derzeit so deutlich über der künftigen Grenze, dass die Einhaltung der neuen Vorgaben bis 2030 kaum möglich sein dürfte – oder drastische Maßnahmen erfordert, zu denen im Prinzip auch wieder Fahrverbote in Innenstädten wie vor sechs, sieben Jahren zählen könnten. Dabei hilft nicht einmal der geplante Umstieg auf Elektroautos vollständig: Während Stickoxid ein Problem bei Verbrennungsmotoren ist, könnten die Auflagen für Feinstaub auch für Elektro-Autos zum Hindernis werden – die schädlichen Partikel entstehen unter anderem durch Abrieb von Reifen und Bremsen.
Die neuen Grenzwerte sind diesmal für Luftverschmutzer bedrohlicher als im vorigen Jahrzehnt, weil die EU die Auflagen nun mit einer umweltpolitischen Revolution verbindet: Erstmals erhalten die Bürger im Grundsatz einen einklagbaren Anspruch auf Schadenersatz für gesundheitliche Schäden durch Luftschadstoffe, wenn in ihrem Land fahrlässig oder vorsätzlich gegen die Grenzwerte verstoßen wird. Allerdings: Wann und wie es zu Klagen kommt, ist unklar, denn die Einzelheiten liegen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten, die jetzt innerhalb der nächsten zwei Jahre Details festlegen müssen – eben auch zum Rechtsweg und möglichen Schadenersatzregelungen. Die dürften endgültig wohl im nächsten Jahrzehnt erst von Gerichten geklärt werden.
Doch sicher ist schon: Die Kommunen stehen unter verstärktem Druck. Die Städte könnten mit Verfahren überzogen werden, „ohne selbst Einfluss auf den Schadstoffausstoß vor Ort nehmen zu können“, hatte der Präsident des Deutschen Städtetags, Markus Lewe, kürzlich im Gespräch mit unserer Redaktion gewarnt. Die Wirtschaft klingt noch besorgter: „Die neue EU-Luftqualitätsrichtlinie kann in Deutschland zu unzumutbaren Eingriffen in Wirtschaft, Mobilität, Landwirtschaft und Wohnen führen“, heißt es beim Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). Es sei völlig unrealistisch, die neuen Luftgrenzwerte wie gefordert bis 2030 einzuhalten, so könnten Entschädigungsansprüchen „ungeahnten Ausmaßes“ entstehen. Auch „weitreichende Fahrverbote für Pkw und Lkw“ seien wieder denkbar.
Handwerk warnt: Betrieben drohen Fahrverbote und der Stopp von Bauarbeiten
Der Zentralverband des deutschen Handwerks warnte am Mittwoch: „Es drohen unseren Betrieben weiterhin Fahrverbote und der Stopp von Bauarbeiten.“ Tatsächlich sind solche Beschränkungen mindestens als Notfallmaßnahmen vorgesehen, wenn die Schadstoffwerte „Alarmschwellen“ überschreiten. Dennoch versichert Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne), dass mit dem finalen Gesetzestext nun Fahrverbote verhindert würden. In dieser Hinsicht seien zentrale Forderungen der Ampel-Regierung noch eingebaut worden.
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Warum es schon einmal Fahrverbote gab
So ist als Zugeständnis auch an die Wirtschaft vorgesehen, dass Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen die Frist zur Einhaltung der Grenzwerte um bis zu zehn Jahre, also bis 2040, verlängern können, dazu müssen sie allerdings detaillierte Pläne zur Abhilfe vorlegen. Der Kompromiss reiche nicht, klagt der CDU-Europaabgeordnete Norbert Lins. „Die neuen Grenzwerte für Luftschadstoffe gehen zu weit und missachten die Notwendigkeit einer differenzierten und flexiblen Herangehensweise“, sagte Lins. Der SPD-Abgeordnete Timo Wölken sprach dagegen von einem „großen Schritt für den Schutz unserer Gesundheit.“ Luftverschmutzung treffe ärmere Haushalte erwiesenermaßen am härtesten, da diese Familien nur schwer umziehen oder in Luftfilter investieren können.
In vielen Städten Deutschlands und anderer EU-Mitgliedstaaten waren jahrelang die derzeit geltenden Grenzwerte nicht eingehalten worden, 2017 wurde hierzulande an 65 städtischen Messstellen die erlaubte Jahresbelastung überschritten: Die EU-Kommission leitete Verfahren gegen Deutschland ein, die Deutsche Umwelthilfe setzte gerichtlich Fahrverbote durch. Die Lage hat sich aber deutlich verbessert. 2022 wurden die Grenzwerte laut Umweltbundesamt nur noch in der Essener Kruppstraße und der Landshuter Allee in München leicht überschritten