Essen. Im Ruhrgebiet kommen weniger Babys zur Welt. Dennoch öffnen neue Geburtshäuser, ältere überleben. Das Problem liegt woanders, weiß eine Hebamme.
Paare kommen zu zweit und verlassen das Gebäude zu dritt, einen kleinen, neugeborenen Menschen im Schlepptau. Das hält Hebamme Katja Stöhr für einen der magischsten Momente: „Es liegt ein Zauber in der Luft, wenn die Welt durch das Neugeborene mal eben komplett umgedreht wurde.“ Das weiß sie so genau, weil sie mit ihren 46 Jahren über 1000 Geburten begleitet hat. Sie hat längst aufgehört, mitzuzählen.
Gemeinsam mit fünf anderen Hebammen betreibt sie das Geburtshaus Essen im Stadtteil Bochold. 1998 eröffnet, haben hier und am alten Standort in Borbeck bereits über 1500 Babys das Licht der Welt erblickt. Von Ende Juni bis September 2024 kam die Geburtshilfe im Haus jedoch vorerst zum Stillstand: Während das Kursgeschäft sowie Vor- und Nachsorgetermine weiterliefen, fanden drei Monate lang keine Geburten vor Ort statt. Woran das liegt, weiß Mitinhaberin Katja Stöhr.
Impfung, Krieg und Klimawandel: Geburtenzahlen sinken
Von 2016 bis 2021 lag die Geburtenzahl in NRW relativ konstant zwischen 170.000 und 175.000 Geburten pro Jahr. Erst seit 2022 sinkt sie: Zuerst nahm sie um 6,2, 2023 dann um weitere 5,5 Prozent ab. Gründe sieht das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in der Covid-19-Impfung, die 2021 in Deutschland zugänglich und für Schwangere nicht genehmigt war. Aufgrund dieser hätten möglicherweise Paare ihren Kinderwunsch aufgeschoben. Der Krieg in der Ukraine, die Inflation sowie der Klimawandel hätten dann ein Übriges beigetragen.
Auch das Ruhrgebiet ist von den sinkenden Geburtenzahlen betroffen: Während Bochum seine Zahl laut Schätzungen in etwa halten konnte und Duisburg sogar 11,5 Prozent mehr Babys als im Vorjahr empfing, verzeichnen viele Städte einen Verlust von 5 bis 7 Prozent. In Herne waren es sogar 11,1 Prozent Lebendgeburten weniger.
Geburt als Zuschussgeschäft: Warum sie sich nicht lohnt
Mit Geburten lässt sich ohnehin nicht der große Taler verdienen, weiß Matthias Blum. Der Geschäftsführer der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen weist darauf hin, dass klinische Geburtsstationen „eklatant unterfinanziert“ seien – nicht umsonst hätten mehrere Kliniken ihre Geburtshilfe-Abteilungen in den letzten Jahren schließen müssen.
Die gezahlten Fallpauschalen reichten demnach nicht aus. Das wirtschaftliche Überleben von Geburtsstationen sei daran gekoppelt, jährlich eine Mindestanzahl an Geburten durchzuführen. Zugleich müssten Kliniken jedoch ständig Versorgungsstrukturen aufrechterhalten – also beispielsweise Hebammen, Pflegekräfte sowie Ärztinnen und Ärzte bezahlen, obwohl sie möglicherweise gar nicht zum Einsatz kommen. „Krankenhäuser mussten und müssen dieses Minus häufig durch Erlöse aus anderen Bereichen sowie durch Reserven auffangen“, so Blum.
Wo Kliniken auf diese Weise bezuschussen, ergänzen Geburtshäuser im Ruhrgebiet ihr Portfolio durch Vor- und Nachsorge sowie Kursangebote. Dennoch: Hier sind Geburten das Hauptgeschäft. Für eine verdient das Geburtshaus im Schnitt 2500 Euro, inklusive Vor- und Nachsorge kommen die Inhaberinnen auf 3700 Euro. Davon müssen Miet-, Energie- und Nebenkosten, der Personalaufwand vor, während und nach der Geburt, jegliche Versicherungen und organisatorische Arbeiten finanziert werden.
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Die sinkende Geburtenzahl scheint sich in der außerklinischen Geburtshilfe noch nicht bemerkbar zu machen. Die Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe e.V. (QUAG) hält fest: Zeitgleich zur fallenden Geburtenzahl bleiben die außerklinischen Geburten konstant. 2023 machten sie 1,98 Prozent der gesamten Geburten aus. Das Geburtshaus Dortmund berichtet von einem beständigen Interesse, in Bochum eröffnet im November sogar ein neues Geburtshaus an der Hebammenpraxis Isis. Hebamme Stöhr vom Essener Geburtshaus erklärt sich das mit einem wachsenden Bewusstsein für natürliche Geburt: „Es kommt bei den Menschen an, dass es nicht egal ist, wie wir geboren werden oder wie wir gebären.“
Wenige Hebammen entscheiden sich für die Geburtshilfe
Seit das Geburtshaus Essen im September wieder mit der Geburtshilfe gestartet ist, läuft sie dennoch schleppend an. Für Oktober, November und Dezember erwartet Stöhr noch 20 Geburten, was die Gesamtzahl 2024 auf 70 bringen würde. Für gewöhnlich liege sie bei 120.
Ob und inwiefern sich die sinkende Geburtenzahl auf die aktuelle Flaute auswirkt, vermag Stöhr nicht zu sagen. Sie ist sich jedoch sicher: Die drängenden Probleme liegen woanders. Einerseits kämen zwar immer mehr Hebammen nach, diese stünden aber nicht bei Geburtshäusern Schlange. Viele entschieden sich komplett gegen die Geburtshilfe, etwa weil die Berufshaftpflichtversicherung für Hebammen, die Geburten begleiten, jährlich rund 10.000 Euro mehr kostet. Zwar können sich Hebammen dieses Geld unter bestimmten Bedingungen refinanzieren lassen, dies sei jedoch sehr aufwändig.
Sonja Kleinrath, Vorsitzende des Verbands Hebammen NRW, weiß um das Problem: „Es gibt viele Hebammen, aber wenige, die sich für die Geburtshilfe entscheiden“, sagt sie. In Bochum, wo sie das Geburtshaus mitgründet, gebe es etwa drei Beleghebammen, die Schwangere mit Klinikgeburt durchgängig begleiten: während der Schwangerschaft, Geburt und danach.
Hebammen im Ruhrgebiet: Die Bezahlung mache den Beruf nicht attraktiver
Der Grund für die drei Monate Pause von der Geburtshilfe, zu der sich das Geburtshaus Essen dieses Jahr gezwungen sah, liegt eben hier begraben: Schon im Oktober 2023 kündigte sich an, dass sich vier Kolleginnen beruflich umorientieren würden. Die Suche nach Nachfolgerinnen begann sofort, neue Kolleginnen fingen jedoch erst im Mai, September und Oktober an. Insgesamt arbeiten damit im Geburtshaus Essen aktuell sechs Hebammen, fünf davon sind in der Geburtshilfe tätig. „Eigentlich hätten wir gern noch drei weitere Kolleginnen“, so Stöhr. Schließlich sind bei jeder Geburt zwei von ihnen anwesend. Mit mehr Hebammen könnten sie die ständigen Bereitschaftsdienste auf mehrere Schultern verteilen.
Die Bezahlung sorge derweil dafür, dass der Beruf der Hebamme – insbesondere in Selbstständigkeit – immer unattraktiver werde. So erhalte eine Hebamme etwa 38 Euro für einen Wochenbettbesuch, unabhängig davon, wie lange dieser tatsächlich dauert. „Ein Handwerker fährt dafür schon gar nicht raus“, sagt Stöhr.
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