Essen/Mülheim. Zum 150. Geburtstag ließ der Essener Dax-Konzern Brenntag erstmals seine Geschichte aufarbeiten. Wissenschaftler entdecken Überraschungen.
Als Philipp Mühsam im Oktober 1874 in Berlin einen Großhandel für Eier eröffnete, ahnte er wahrscheinlich nicht, dass sein Familienunternehmen unter dem Namen Brenntag 150 Jahre später ein seltenes Jubiläum feiern, zum weltgrößten Chemikalien-Händler aufgestiegen und als Dax-Konzern zu Deutschlands Top-Unternehmen gehören würde. Das Jubiläum hat der Brenntag-Vorstand zum Anlass genommen, erstmals die Unternehmensgeschichte wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen – mit durchaus überraschenden Erkenntnissen aus der Nazizeit und über den Gefangenenaustausch mit der DDR.
Als Brenntag-Chef Christian Kohlpaintner beim Googeln herausfand, dass ein Unternehmen in Deutschland durchschnittlich gerade einmal 15 Jahre alt wird, war er überrascht. „Seine“ Brenntag feiert in dieser Woche ihren 150. Geburtstag. Der Vorstandsvorsitzende bezeichnet die lange Tradition des Konzerns als „außerordentliche Besonderheit“ und beauftragte zwei Wissenschaftler herauszufinden, wie es möglich ist, dass ein Unternehmen seit 150 Jahren Erfolg haben kann. „Dabei sollten auch die dunklen Zeiten nicht ausgespart werden. Wir wollen uns offen und schonungslos der Wahrheit widmen“, betont Kohlpaintner.
Zwei Jahre lang haben seither die Wirtschafts- und Unternehmenshistorikerin Stephanie Tilly und ihr Kollege Christopher Kopper die nur lückenhaft vorhandenen Dokumente gesichtet und die Spuren der Brenntag-Geschichte nachgezeichnet. Sie führen von Berlin nach Mülheim und Essen, zu den legendären Ruhrgebiets-Unternehmen Stinnes und Veba, in die DDR und zu dem Urteil der Wissenschaftler, dass „die Politik des nationalsozialistischen Regimes die jüdischen Eigentümer zum Verkauf zwang“, wie beide im gerade erschienenen Buch „150 Jahre Brenntag – Von Berlin in die Welt“ schreiben.
Es war am Heiligabend 1936, als der Kaufmann Julius Herz, dem inzwischen die Mehrheit an der Philipp Mühsam AG gehörte, der Unternehmerfamilie Stinnes in Mülheim ein Verkaufsangebot unterbreitete. Herz, der wie auch der Gründer Mühsam Jude war, hatte es mit keinen Geringeren als den Söhnen der Unternehmerlegende Hugo Stinnes, dem „König von der Ruhr“, zu tun. Der Mülheimer galt zuweilen als „größter und mächtigster Unternehmer in Deutschland“ und hatte ein Firmenkonglomerat von Bergwerken, Kohlehandel, Transportschiffen und Kraftwerken aufgebaut.
Die Stinnes-Brüder drückten den Verkaufspreis für Brenntag
Die Mühsam AG, die inzwischen nicht nur mit Eiern, Getreide und Agrarprodukten, sondern auch mit Chemikalien und Mineralöl handelte, passte gut in die Expansionsstrategie von Stinnes. Doch die Brüder aus Mülheim drückten den Preis für die Mühsam AG, deren Wert auf drei Millionen Reichsmark geschätzt wurde, „im letzten Augenblick“ auf 1,475 Millionen Reichsmark. „Das Verhalten von Hugo und Otto Stinnes war für die Käufer jüdischer Unternehmen durchaus typisch, die bewusst und zielgerichtet aus der Notlage der früheren jüdischen Eigentümer Profit schlugen“, urteilen die Autoren Tilly und Kopper. Nach ihren Recherchen war Otto Stinnes Mitglied der Sturmabwehr SA. Sein Bruder Hugo jr. gehörte zwar nicht der NSDAP an, galt aber als loyal.
Unter dem Dach von Stinnes profitierte die Brenntag zwar vom Zweiten Weltkrieg, weil der Bedarf an Sprit, Mineralöl und Chemikalien in die Höhe schnellte. Tilly und Kopper betonen aber: „Es gibt keine Indizien, dass Brenntag tödlich wirkende Chemikalien an die Konzentrations- und Vernichtungslager der SS lieferte.“ Das Zyklon B, mit dem die Nazis Hunderttausende Jüdinnen und Juden umbrachten, habe die Herstellerfirma Degesch in Frankfurt direkt ausgeliefert.
1943 verlegte Brenntag den Firmensitz von Berlin nach Mülheim. Zuletzt steuerte das Unternehmen seinen Aufstieg zum weltgrößten Chemikalienhändler aus dem stadtbildprägenden Stinnes-Hochhaus am Mülheimer Rhein-Ruhr-Zentrum, bevor es im Herbst 2017 in einen Neubau, das „House of Elements“ nach Essen umzog. Zwischenzeitlich hatte die Brenntag zum Energiekonzern Veba (heute Eon) gehört, kehrte aber wieder in den Stinnes-Konzern zurück, bevor der im Jahr 2003 von der Deutschen Bahn übernommen wurde und von der Bildfläche verschwand. Allein an der Brenntag hatte der Logistik-Moloch kein Interesse. Der Chemikalienhändler hatte bis zum Börsengang im Jahr 2010 eine Vielzahl von Eigentümern.
In die bewegte Geschichte der Brenntag fällt ein historisches Ereignis, das die Wissenschaftler erst jetzt einer breiten Öffentlichkeit offenbaren. Über ihre Geschäftsverbindungen mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gehörten die Mülheimer zu den fünf ausgewählten westdeutschen „Vertrauensfirmen“, die Güter in die DDR liefern durften. Der Gegenwert der Lieferungen sollte den evangelischen Kirchen in Ostdeutschland zugute kommen.
Brenntag machte „Sondergeschäfte“ mit der DDR
Nach Recherchen von Tilly und Kopper war die Brenntag zusätzlich in sogenannten „Sondergeschäften“ aktiv, „mit denen die Bundesregierung politische Häftlinge aus der DDR freikaufte“. Diese Beziehungen waren umstritten. Die Autoren sprechen von einer „Gratwanderung zwischen der humanitären Zielsetzung und der Beteiligung an einem problematischen, moralisch höchst fragwürdigen Menschenhandel, mit dem die DDR Devisen erwirtschaftet hatte“.
Die Wissenschaftler konstatieren allerdings auch, dass das „Kirchengeschäft“ für Brenntag nur „mit geringen Margen verbunden“ gewesen sei. Sie kommen zu dem Schluss: „Insgesamt war das Geschäft mit der DDR und anderen Staatshandelsländern für Brenntag ein bedeutsames Handlungsfeld, wie auch der Veba-Konzern eine zentrale Rolle im deutsch-deutschen Handel spielte.“
Kanzler Scholz gratuliert Brenntag zum 150.
Dem Image der Brenntag haben die Beziehungen mit der DDR nicht geschadet. Im September 2021 stieg der in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Chemikalienhändler ins Oberhaus der deutschen Börse, den Dax 40, auf. Auf der Essener Zeche Zollverein will der Konzern, der durch internationale Zukäufe immer weiter wächst, am Mittwoch seinen 150. Geburtstag feiern. Zum Gratulieren hat sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt.
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