Essen. Muss der Staat Thyssenkrupp-Stahl retten? Vorschläge bis hin zur Deutschen Stahl AG kommen von CDU, SPD und Grünen. Aktienkurs zieht deutlich an.
Wenige Unternehmen in Deutschland stehen so im Fokus der Politik wie Thyssenkrupp. Und wahrscheinlich löst kein einziger Konzern derartig leidenschaftliche Debatten aus, ohne dass der Staat derzeit auch nur einen Anteil am Unternehmen besitzt – so wie etwa bei Volkswagen oder der Commerzbank. Oder eben beim Thyssenkrupp-Konkurrenten Salzgitter, der zu einem guten Viertel dem Land Niedersachsen gehört.
Deshalb ist es kein Zufall, dass alle Jahre wieder Rufe laut werden, der Staat möge bei Deutschlands größtem Stahlkonzern mit großen Standorten etwa in Duisburg, Bochum, Gelsenkirchen, Siegen und Dortmund einsteigen. Gerade jetzt, da der Essener Industriekonzern und seine Duisburger Stahltochter Thyssenkrupp Steel (TKS) mal wieder um die Zukunft der Schwerindustrie ringen, flammt diese Debatte neu auf.
Aktienkurs von Thyssenkrupp steigt binnen Stunden um mehr als fünf Prozent
Was die Finanzmärkte davon halten, machten sie am Dienstagmorgen unmittelbar klar - und griffen zur Thyssenkrupp-Aktie. Der Kurs stieg bis zum späten Vormittag sprunghaft um zwischenzeitlich mehr als fünf Prozent an, der Börsenwert des kriselnden Industriekonzerns überschritt erstmals seit langer Zeit wieder die Zwei-Milliarden-Euro-Marke. Offenkundig lässt die Börse bereits das kleinste Anzeichen einer möglichen Lösung für den Stahl auf Besserung für den Gesamtkonzern hoffen.
„Es wäre in der aktuellen Lage unverantwortlich, diese Frage als Tabu auszuklammern“, sagte Felix Banaszak unserer Zeitung. Der industriepolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, der aus Duisburg stammt, sorgt sich um den größten Arbeitgeber seiner Stadt: Rund 14.000 der 27.000 TKS-Beschäftigten arbeiten an Europas größtem Stahlstandort. Der Komplex im Duisburger Norden ist fünfmal so groß wie der Stadtstaat Monaco. Viele Tausend weitere Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt davon ab, ob hier auch künftig Stahl produziert und gewalzt wird.
Seine Sorgen teilen Politiker vieler Parteien, darunter etwa die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Bund und Land haben Thyssenkrupp Steel immerhin zwei Milliarden Euro versprochen als Staatshilfe für den Bau der ersten Direktreduktionsanlage (DRI), mit der in Duisburg ab dem Jahr 2027 klimafreundlicheres Roheisen als Stahlbasis hergestellt werden soll. Schon deshalb schauen sie alle ganz genau hin, wie es mit TKS weitergeht.
Tschechischer Investor ist bereits bei Thyssenkrupp Steel Europe eingestiegen
Konzernchef Miguel López und Aufsichtsratsvorsitzender Siegfried Russwurm liefern sich nicht nur seit Monaten einen öffentlich geführten Streit mit der IG Metall und dem Betriebsrat über das Sanierungskonzept für die Stahltochter und deren Verselbstständigung. Sie haben unlängst auch gestiegene Kosten für die DRI-Anlage als neues Problem öffentlich gemacht. Und López jüngstes Bekenntnis, es bleibe „unser erklärtes Ziel“, die DRI-Anlage bauen zu wollen, war so manchem Politiker nicht klar genug. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Banaszak etwa sagte vor dem „Nationalen Stahlgipfel“ vergangene Woche in Duisburg, er „finde es wahnsinnig, dass ausgerechnet der BDI-Chef in seiner Funktion als Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef jetzt die DRI-Anlage in Duisburg infrage stellt“. Damit gefährde er den Wasserstoffhochlauf in der Region und darüber hinaus.
Für Thyssenkrupp Steel als Ganzes stellt sich seit Monaten die Frage, ob – und noch mehr zu welchen Bedingungen – die Keimzelle des Traditionskonzerns in die Selbstständigkeit entlassen werden kann. Der tschechische Investor Daniel Kretinsky hat bereits 20 Prozent an TKS übernommen und soll laut Vereinbarung demnächst auf 50 Prozent aufstocken. Damit könnte der Mutterkonzern den Stahl aus seiner Bilanz tilgen.
Die Arbeitnehmerseite wehrt sich nicht grundsätzlich gegen eine Verselbstständigung, besteht aber auf einer soliden Finanzausstattung für Thyssenkrupp Steel, damit das Stahlgeschäft eigenständig überleben kann. Über die Höhe der vom Konzern zu leistenden Summen haben die Vorstände in Duisburg und Essen erbittert gestritten, Stahlchef Bernhard Osburg musste inzwischen gehen.
Auch interessant
Die größte Sorge der Politik ist nun, dass Kretinsky sich diesen Konflikt nicht mehr lange anschaut und wieder abspringt, eine Ausstiegsklausel hatte er sich vorsorglich in seinen Vertrag schreiben lassen. Dann hinge Thyssenkrupp Steel wieder in der Luft und die Lage könnte „schnell existenzbedrohend werden“, wie es Konzernchef López bereits im Juni einmal formulierte. Wäre das der Punkt, an dem der Staat rein muss?
Banaszak: „Hilfe vom Staat gibt es nicht zum Nulltarif“
Wenn absehbar sei, dass ein systemrelevantes Unternehmen durch einen befristeten Einstieg des Staates in wenigen Jahren wieder rentabel werden kann, müsse man das auch gewissenhaft prüfen, betont Felix Banaszak. „So haben wir es in der Bundesregierung und im Parlament bei der Meyer Werft getan und uns dafür entschieden.“ Banaszak sagt aber auch, das dürfe der Staat nicht machen, weil es für Thyssenkrupp die einfachste Lösung wäre. „Hilfe vom Staat gibt es nicht zum Nulltarif, dafür muss ein Unternehmen Einfluss abgeben und im Zweifel auch schmerzhafte Zugeständnisse machen.“ Bezogen auf Thyssenkrupp würde das etwa eine realistische Durchfinanzierung der Stahlsparte betreffen, die dann nicht nur die Arbeitnehmerseite fordern würde, sondern auch der Staat.
Bei der Meyer-Werft hat sich unlängst Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für den von seiner Ampel-Regierung geplanten Staatseinstieg zur Rettung des Unternehmens in Niedersachsen feiern lassen. „Wir lassen euch mit euren Sorgen nicht allein! Wenn jemand in Schwierigkeiten steckt, dann packen wir alle gemeinsam an. So sind wir! So ist Deutschland! Das ist jedenfalls mein Prinzip“, rief er den Beschäftigten zu. Würde das auch für die Stahlwerke von Thyssenkrupp gelten?
Bärbel Bas zu Stahl-Jobs: „Wir dürfen nicht zulassen, dass sie verschwinden“
„Schiffbau und Stahlindustrie sind zentrale Industrien unserer Wirtschaft“, sagt dazu Bärbel Bas in ihrer Funktion als Duisburger Bundestagsabgeordnete auf Anfrage unserer Redaktion. „Einzelne Unternehmen aus verschiedenen Branchen lassen sich nicht eins zu eins vergleichen. Aber sowohl die Meyer Werft als auch Thyssenkrupp haben deutschlandweite Bedeutung und sind Anker ihrer jeweiligen Industriezweige“, erklärt die SPD-Politikerin, die als Bundestagspräsidentin über großen Einfluss in ihrer Partei verfügt. „In beiden Fällen geht es um tausende Arbeitsplätze. Und um die Zukunft dieser Industriezweige in Deutschland insgesamt. Für beide gilt: Wir dürfen nicht zulassen, dass sie verschwinden“, mahnt Bas.
Im Fall der Meyer Werft sind der Bund und das Land Niedersachsen gemeinsam vorgegangen. Für rund 400 Millionen Euro haben sie zusammen etwa 80 Prozent der Anteile am Unternehmen übernommen. „Am Schicksal von Thyssenkrupp wird sich beweisen, ob NRW langfristig Industrieland bleiben kann“, sagt die nordrhein-westfälische SPD-Vorsitzende Sarah Philipp und erwähnt in diesem Zusammenhang auch das Beispiel Meyer Werft.
SPD: „Einbindung des Staates wie bei der Meyer Werft als Brückenlösung“
Die schwarz-grüne NRW-Landesregierung von Ministerpräsident Wüst und Vize-Regierungschefin Mona Neubaur solle „einen Einstieg bei Thyssenkrupp nicht länger kategorisch ausschließen“, fordert Sarah Philipp und fügt hinzu: „Eine Einbindung des Staates wie bei der Meyer Werft kann zum Beispiel eine Brückenlösung sein.“ Die SPD habe die Landesregierung seit dem Jahr 2018 mehrfach aufgefordert, den Einstieg des Landes bei Thyssenkrupp zu prüfen. „Die Landesregierung manövriert sich in eine industriepolitische Sackgasse, wenn ein staatlicher Einstieg bei Thyssenkrupp ein Tabu-Thema bleibt.“
Auch der Bochumer CDU-Politiker und frisch gewählte Chef der christdemokratischen Arbeitnehmerorganisation CDA, Dennis Radtke, sieht Handlungsbedarf. „Wer Resilienz gegenüber autoritären Regimen ernst nimmt, der darf das Thema Deutsche Stahl AG unter Beteiligung des Bundes nicht vom Tisch nehmen“, sagte Radtke unserer Redaktion. Und: „Ich halte das mittelfristig für einen denkbaren Weg. Die Bundesländer alleine können das nicht stemmen. Das ginge nur auf nationaler Ebene.“
Weitere Texte aus dem Ressort Wirtschaft finden Sie hier:
- Thyssenkrupp: Sorgen um historisches Großprojekt in Duisburg
- Billigmode: KiK-Chef Zahn: „Eine Riesensauerei, was da gerade passiert“
- Standort Ruhrgebiet: Verlässt Evonik Essen? Konzern erwägt Umzug
- HKM: Investor greift nach Thyssenkrupp-Tochter HKM: Was er vorhat
- Vonovia: Toter lag über zwei Jahre unbemerkt in seiner Wohnung in NRW