Essen. In NRW könnte jeder Bewerber eine Lehrstelle bekommen. Im Ruhrgebiet sind trotzdem viele Jugendliche unversorgt - wie kann das sein?
In einer perfekten Welt könnte es genau passen: Rein rechnerisch könnte jeder junge Mensch, der eine Ausbildung machen möchte, auch eine Lehrstelle in NRW finden. Das geht aus neusten Daten zum Ausbildungsmarkt hervor, die die Agentur für Arbeit in NRW am Freitag vorgestellt hat.
Demnach haben sich zum Start des Ausbildungsjahres genau 102.189 junge Menschen um eine Lehrstelle beworben - Betriebe wiederum haben 102.069 Ausbildungsplätze bereitgestellt. Weil diese Rechnung trotzdem nicht aufgeht, probieren Fachleute auch kuriose Wege aus.
Auf 100 Stellen kommen in Olpe 42 Bewerber, in Gelsenkirchen sind es 182
Er freue sich sehr, dass das Interesse an einer dualen Ausbildung weiter steige, sagt Roland Schüßler, Chef der Agentur für Arbeit, am Freitag. Das Aber lässt nicht lange auf sich warten: „Wir haben in NRW nach wie vor eine sehr ungleiche Verteilung von Angebot und Nachfrage. Diese Heterogenität finden Sie in keinem anderen Bundesland.“
Gerade in ländlichen Gebieten suchen Betriebe händeringend Auszubildende, in den meisten Ruhrgebietsstädten indes gibt es einen regelrechten Überhang von Bewerbenden, von denen viele immer noch keine Lehrstelle haben. Schüßler macht diesen Trend an zwei extremen Beispielen deutlich: Im südwestfälischen Olpe kommen laut Agenturchef auf 100 Ausbildungsstellen 42 Bewerberinnen und Bewerber - in Gelsenkirchen sind es 182.
Landesweit gibt es laut Agentur für Arbeit 18 Kreise und Städte mit zu wenig Bewerberinnen und Bewerbern - darunter als einzige Ruhrgebietsstadt Mülheim. Lediglich in Dortmund, Bochum und dem Ennepe-Ruhr-Kreis gilt der Ausbildungsmarkt als ausgeglichen. Überall sonst gibt es einen Bewerberüberhang. Landesweit sind immer noch 29.996 junge Menschen ohne Lehrstelle - zugleich bleiben bislang 30.050 Angebote frei.
Ausbilungsmarkt: Junge Menschen wollen für die Lehrstelle immer seltener umziehen
Das Problem: Die jungen Menschen sind oft nicht mobil und wollen die Stadt nicht für die Arbeit verlassen. Daran hat offenbar auch der neue Mobilitätszuschuss wenig geändert, den der Bund im Rahmen der sogenannten Ausbildungsgarantie seit dem Frühjahr ermöglicht. Fahrtkosten werden bezuschusst. Zudem kämpfen viele neue und spezifischere Ausbildungsberufe um Aufmerksamkeit. Wer weiß schon, was ein „Verfahrensmechaniker der Kunststoff- und Kautschuktechnologie“ macht?
„Wir müssen uns immer wieder fragen: Erreichen wir die jungen Menschen? Was könnte man bei der Berufsorientierung und beim Übergang von Schule in Arbeit verbessern?“, so Schüßler. Geld zum Zugticket allein reicht offenbar nicht. Schüßler denkt größer: In anderen Bundesländern gebe es Ausbildungsheime. Ähnliche Initiativen in NRW sind immerhin in den Startlöchern
Und der Agenturchef geht noch weiter: In Gelsenkirchen, jener Stadt mit dem höchsten Bewerberüberhang in NRW, wollen Unternehmen und die dortige Arbeitsagentur sogar schon in fünfte Klassen gehen, um Interesse für weniger bekannte Branchen und Berufe zu wecken. „Es gibt Kollegen, die fragen mich, ob wir demnächst auch in der Kita Berufsberatung machen wollen“, sagt Schüßler. So weit gehe es nun nicht. „Aber ich glaube, dass wir früher als bislang mit der Berufsberatung anfangen müsse und in Gelsenkirchen wird das nun ausprobiert.“
Vor den Unternehmen im Land zieht der Agenturchef dennoch den Hut: Trotz schwerer wirtschaftlicher Lage und Unsicherheiten durch die Digitalisierung bilden die Betriebe fleißig aus. Zum Start des Ausbildungsjahres haben die Berufe in der Industrie- und Handelskammer über 50.000 Ausbildungsverträge geschlossen, weitere knapp 18.500 geschlossene Verträge gehen aufs Konto der Handwerksbetriebe und 8.300 Lehrstellen sind in Anwaltskanzleien, Arztpraxen oder Apotheken, sprich in den freien Berufen, besetzt worden.
Noch sind 30.000 Stellen offen. Jede Bewerberin und jeder Bewerber habe auch jetzt noch die Chance, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, sagt Ralf Stoffels, Präsident der Industrie- und Handelskammern NRW. Er freue sich besonders, dass anders als in den Vorjahren mehr Ausbildungsverträge in den gewerblich-technischen Berufen geschlossen worden sind. Die Anzahl habe sich fast verdoppelt. „Das ist für einen Industriestandort, wie Deutschland einer bleiben will, eine gute Nachricht.“
Ohne ausländische Jugendliche würden Unternehmen noch länger nach Azubis suchen
Die Daten zeigen auch: Ohne zugewanderte junge Menschen wären noch viel mehr Unternehmen auf der Azubisuche: Während die Zahl der deutschen Bewerberinnen und Bewerber im Vergleich zum Vorjahr leicht zurückgegangen ist, ist sie bei den ausländischen um 12 Prozent gestiegen. Der Zuwachs geht vor allem auf Jugendliche aus der Ukraine und den acht stärksten Asylherkunftsländern, darunter Syrien, zurück.
Gerade das Handwerk würde gern mehr ausbilden, sagt Andreas Oehme, Geschäftsführer des Westdeutschen Handwerkskammertags. Seit Jahren bilde es verstärkt geflüchtete Menschen aus. Betriebe nutzten nun auch das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, um Azubis in Drittstaaten wie Vietnam zu finden. Das betreffe einzelne Branchen und Betriebe, etwa Bäcker oder Textilreiniger. Zugleich forderte er mehr Ambitionen, damit junge Menschen ohne Abschluss nicht unversorgt bleiben. Insgesamt werde das Handwerk in diesem Jahr wohl an die 28.000 Ausbildungsverträge schließen.
Gerade in den freien Berufen wird es eng: Eine Arztpraxis oder Apotheke kann ihre Preise nicht selbst gestalten, sondern ist an Gesetzgebungen und Verordnungen gebunden. „Auf Dauer werden marktgerechte Ausbildungsvergütungen schwierig“, mahnt Bernd Zimmer, Vorsitzender des Verbands Freie Berufe NRW, am Freitag. Dennoch bildeten die Betriebe weiter engagiert aus und leisteten dabei auch Integrationsarbeit: „Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil aller unserer Ausbildungsgänge. In einer Arztpraxis oder einer Apotheke müssen Sie mit den Menschen kommunizieren können.“
„Es ist ein Armutszeugnis, dass Arbeitgeber über den Fachkräftemangel klagen, aber nur jedes fünfte Unternehmen in NRW überhaupt ausbildet“
Hart ins Gericht gehen die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern. Es sei ein „Armutszeugnis, dass Arbeitgeber über den Fachkräftemangel klagen, aber nur jedes fünfte Unternehmen in NRW überhaupt ausbildet“, sagte Anja Weber, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds in NRW, am Freitag. Betriebe müssten sich von der Bestenauslese verabschieden und Ausbildungsbedingungen verbessert werden. Nötig sei zudem eine umfassendere Ausbildungsgarantie als die des Bundes und ein Fonds, um Ausbildungskosten fairer unter allen Betrieben zu verteilen.