Dortmund. Kein Abschluss, keine Lehre, keine Chance? Wie Berufskollegs in NRW junge Menschen auffangen und wie sie auf Kritik des DGB reagieren.
Das Geheimnis des Karl-Schiller-Berufskollegs liegt im Keller. Hinter einer schwarzen Tür des Dortmunder Schulgebäudes stehen eine Reihe von Maschinen zum Bedrucken von Tassen und T-Shirts. Daneben verraten Aufgabenzettel an einer Kreidetafel, dass in diesem Raum kein regulärer Unterricht stattfindet: Rechnungen sollen geschrieben, Angebote verschickt, das Schaufenster mit neuen Entwürfen befüllt werden. Willkommen in der Schülerfirma „Printwerk“.
Felix Vey und sein Mitschüler Umut Kadircan Alabay zeigen mit sichtlichem Stolz die bedruckten Tassen und bunt verzierten T-Shirts, die sie mit erarbeitet haben. Dass sie einmal E-Mails an potenzielle Kunden schicken, Designs entwickeln oder gern mit den Händen arbeiten würden, hätten sie vor ihrer Zeit am Dortmunder Kolleg nicht gedacht. „An meiner alten Schule war ich das größte Negativbeispiel“, sagt der 19-jährige Vey. Laut, auffällig, störend – nach einem Jahr in der Klasse zur Ausbildungsvorbereitung habe er seinen ersten Schulabschluss nachgeholt und endlich Pläne: Er will ins Handwerk.
Lesen Sie hier das ganze Protokoll von Felix Vey: Felix (19) übers Berufskolleg: „Das ist wie Auferstehen“
Es sind solche Geschichten, die bei vielen Unternehmen in NRW Hoffnung wecken dürfen. Immer mehr Branchen sind vom Fachkräftemangel betroffen, zugleich hat in NRW jeder fünfte junge Mensch keine Berufsausbildung. Auf der Suche nach Auswegen sehen Gewerkschaften auch die knapp 370 NRW-Berufskollegs im Fokus.
In NRW befänden sich Zehntausende junge Menschen in Warteschleifen an den Kollegs, kritisiert Anja Weber, Landeschefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gegenüber dieser Redaktion. „Dort sollen sie auf eine Ausbildung vorbereitet werden. Doch das gelingt viel zu selten. Deshalb müssen wir das Übergangssystem dringend reformieren.“
Große Herausforderungen: Jeder fünfte Schüler in NRW besucht ein Berufskolleg
Tatsächlich gehören die für Außenstehende äußerst komplexen Berufskollegs zu den Schulen mit den wohl größten Herausforderungen. Über eine halbe Million Schüler und damit jeder Fünfte in NRW besucht eines der Kollegs. Sie bieten 16 verschiedene Bildungsgänge an: Über 60 Prozent der Hauptschulabschlüsse, aber auch etwa jedes dritte Abitur im Ruhrgebiet wird nach Landesangaben an einem Berufskolleg abgelegt. Berufsschüler treffen dort auf Flüchtlinge und ehemalige Förderschülerinnen, Abiturienten auf schulpflichtige junge Menschen, die die allgemeinbildende Schule ohne Abschluss und Lehrstelle verlassen haben.
Letztere kommen in die 2015 geschaffene „Ausbildungsvorbereitung“. Rund 27.000 junge Menschen sind in NRW in diesen Klassen, im Ruhrgebiet sind es etwa 9400. An den Kollegs sollen sie neben dem Mathe- und Politikunterricht ausbildungsreif gemacht werden. Sie sollen berufliche Kenntnisse und Orientierung erhalten, Praktika machen und können so den Ersten Schulabschluss (früher: Hauptschulabschluss) nachholen. Nach dem ersten Jahr können sie in eine Klasse der Berufsfachschule wechseln, den Erweiterten Ersten Schulabschluss und die Fachoberschulreife machen. Nimmt man alle drei Jahrgänge zusammen, besuchen rund 53.000 junge Menschen in NRW eine Klasse im „Übergangssektor“.
Wie gut ist die „Ausbildungsvorbereitung“? Nur zehn Prozent schaffen Absprung
Wer in Vollzeit zur Ausbildungsvorbereitung kommt, hat aus Sicht der Kritiker aber besonders geringe Chancen, es in eine Ausbildung zu schaffen. Der Anteil der Schulschwänzer sei hoch, die Abbruchquote ebenfalls. Von zehn Jugendlichen, so heißt es etwa vom DGB, komme am Jahresende ein einziger in der dualen Berufsausbildung an. Das sei gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels nicht vertretbar.
Die Kritik ist bekannt, in Dortmund will man sich damit aber nicht abfinden. „Wir bereiten junge Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ausbildungsreif sind, auf einen Einstieg ins Berufsleben vor“, sagt Markus Herber, Leiter des Robert-Bosch-Berufskollegs. Dass das nicht leicht ist, will sein Kollege Uwe Wiemann, Leiter des Karl-Schiller-Berufskollegs, nicht verhehlen: „Wir haben viele Fälle, die brauchen ein bis zwei Jahre, um ihren Weg zu finden.“ In den Klassen zur Ausbildungsvorbereitung komme „alles zusammen. Unser Ziel ist, dass wir sie vorbereiten auf das, was kommt.“
Mehr Beratung: Dreimal häufiger mit Hauptschulabschluss in die Lehre
Die Schulleiter verweisen auf eine Studie, in der die acht Dortmunder Kollegs gezeigt haben, wie das gehen kann. Mehr als die Hälfte der dafür befragten Schüler wusste erst durch die Vorbereitungszeit am Kolleg, was sie beruflich machen wollen. Durch mehr Begleitung, Beratung und individuellere Ansprache sind fast dreimal mehr Berufsfachschüler in eine Ausbildung gekommen als in den Vergleichsklassen.
Acht von zehn Schülern haben sich zudem aus einem konkreten Grund fürs Kolleg entschieden: „Sie wollen bei uns einen höheren Schulabschluss erreichen, um so bessere Chancen bei der Ausbildungssuche zu haben“, sagt Herber. Alles, was in den Berufskollegs im Unterricht vermittelt werde, sei an „berufliche Handlungskompetenzen“ gekoppelt. Von einer Warteschleife könne keine Rede sein: „Wir haben in Dortmund gezeigt, dass wir die Chancen junger Menschen verbessern, wenn wir sie gezielt ansprechen und früh mit der Berufsberatung einsteigen“, so Herber.
Wie können junge Menschen eher für eine Ausbildung gewonnen werden?
Unterstützung erhalten die Kolleg-Chefs von der Arbeitsagentur in NRW. „Die Berufskollegs in NRW sind seit langer Zeit gute und geschätzte Partner der Arbeitsagenturen“, sagte der Chef der NRW-Behörde, Roland Schüßler. „Gemeinsam ermöglichen wir es jungen Menschen, auf unterschiedliche, individuelle Weise einen Einstieg ins Berufsleben zu finden.“ Ganz allgemein stelle sich aber die Frage, wie es den Partnern am Ausbildungsmarkt gelinge, junge Menschen für eine duale Berufsausbildung zu begeistern.
Kritiker betonen, die Schuld nicht bei den Kollegs zu suchen. Die dortige Ausstattung lasse oft zu wünschen übrig, der Lehrermangel wird als besonders eklatant wahrgenommen, die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen als groß beschrieben. Das sei kaum zu bewältigen. Die Ausstattung ist von Stadt zu Stadt verschieden – in Dortmund betonten die Schulleitungen, eine gute Stellung zu haben.
Der DGB fordert Reformen. „Jugendliche, die keine reguläre Ausbildung schaffen würden, müssen über geförderte Ausbildungsangebote aufgefangen werden“, sagt DGB-Chefin Weber. Es brauche eine Ausbildungsgarantie „mit einem umlagefinanzierten Zukunftsfonds, der die Ausbildungskosten fairer unter allen Betrieben verteilt und den Anreiz erhöht, betriebliche Ausbildungsplätze anzubieten“. Erst 2023 hatte der NRW-Ausbildungskonsens beschlossen, den Jugendlichen mit Übergangslotsen und einer Praktikumsinitiative zu helfen.
„Berufskollegs müssen unglaublich flexibel sein“: Probleme ändern sich sehr schnell
Die acht Kollegs in Dortmund haben in ihren Möglichkeiten reagiert. Sie haben sich zu einem regionalen Berufsbildungszentrum zusammengeschlossen, über das sie Lösungen für gemeinsame Probleme suchen. „Berufskollegs müssen unglaublich flexibel sein, weil sich Problemlagen und Rahmenbedingungen auch sehr schnell ändern“, sagt Uwe Wiemann.
Ein Beispiel, das Schule machen könnte, ist das „Printwerk“. Lehrer Ralf Seidenkranz erklärt, was die Schülerfirma im Rahmen einer Klasse zur Ausbildungsvorbereitung (AV) ausmache: Den Jugendlichen werde praxisnah Wissen vermittelt, sie sähen zugleich schnelle Erfolge ihrer Arbeit und bestimmten selbst, was mit den Gewinnen der Firma passieren soll. Die Zahl der Schulschwänzer sei mit der Schülerfirma verringert worden, so Seidenkranz. „2017 hatten wir eine Abschlussquote von 30 Prozent bei den AV-Schülern. Heute sind es über 80 Prozent.“