Berlin. Eine neue Auswertung bringt besorgniserregende Ergebnisse zur Arbeitszeit ans Licht. Die Wirtschaft stellt jetzt klare Forderungen.
Deutschland diskutiert über neue Arbeitszeitmodelle wie die Vier-Tage-Woche, doch schon jetzt zählen die Deutschen unter den stärksten Industrienationen der Welt zu den Völkern, die vergleichsweise wenig Zeit im Job verbringen. Das geht aus einer neuen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) hervor, die dieser Redaktion exklusiv vorliegt.
Mehr arbeiten? Experte macht diesen Vorschlag gegen Fachkräftemangel
Unter den sogenannten OECD-Staaten haben die Forscher dafür erstmals die geleisteten Arbeitsstunden je Einwohner im Alter zwischen 15 und 64 Jahren verglichen. In der Auswertung landen die Deutschen mit 1.031 geleisteten Arbeitsstunden im Jahr 2022 lediglich im hinteren Mittelfeld. Nur Franzosen (1030 Arbeitsstunden), Italiener (1019), Belgier (996) und Türken (870) arbeiten noch weniger als die Bundesbürger. Der Durchschnittswert unter den verglichenen OECD-Ländern liegt bei 1216 Arbeitsstunden je Einwohner im erwerbsfähigen Alter.
Lesen Sie auch den Kommentar: Faule Deutsche? Fatale Zahlen sollten uns zu denken geben
In Deutschland wird weniger als in den meisten anderen Industrieländern gearbeitet
Besonders arbeitswütig sind der IW-Erhebung zufolge die Einwohner Neuseelands, die auf 1393 Arbeitsstunden kommen. Danach folgen Tschechien (1324), Australien (1319), Polen (1295) und die USA (1291). Aber auch Niederländer (1167), Briten (1156) und Griechen (1145) arbeiten mehr als die Deutschen.
Für die Berechnung der geleisteten Arbeitsstunden je Einwohner sind laut IW Köln die Erwerbstätigenquote und die durchschnittliche Pro-Kopf-Arbeitszeit berücksichtigt worden. In Deutschland ist demnach zwar der Anteil von Arbeitnehmern an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter mit 77 Prozent besonders hoch. Jedoch ist die Pro-Kopf-Arbeitszeit mit 1341 Stunden im Jahr niedriger als in allen anderen OECD-Staaten, heißt es in der Auswertung.
Deutschland schöpft eigenes Arbeitskräftepotenzial „unterdurchschnittlich“ aus
Studienautor Holger Schäfer sieht vor allem in der hohen Teilzeitquote in Deutschland einen Grund dafür. „Leider wird die kurze Arbeitszeit nicht durch die hohe Erwerbsbeteiligung kompensiert. Bezogen auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird in Deutschland daher weniger als in den meisten anderen OECD-Ländern gearbeitet“, sagte Schäfer, Experte für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, dieser Redaktion.
- Verkehr: Wallbox fürs E-Auto kaufen? Experten warnen vor böser Falle
- Geld: Abfindung im Job kassieren? Diese Tipps sind bares Geld wert
- Altersvorsorge: Rente & Elternzeit – Ab welchem Einkommen Sie Verlierer sind
Das IW Köln attestiert Deutschland daher auch, eine „unterdurchschnittliche Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials“. Studienautor Schäfer hält es somit für möglich, demografische Effekte wie die baldige Rente der Babyboomer-Jahrgänge zu kompensieren. „Würde in Deutschland gleich viel gearbeitet wie in Neuseeland, könnte das Arbeitsvolumen um rund 30 Prozent höher liegen“, heißt es in der Auswertung. Stellschrauben, um das zu erreichen, lägen eher bei einer längeren Arbeitszeit und weniger bei der ohnehin schon hohen Erwerbsbeteiligung.
DIHK: Debatte über reduzierte Arbeitszeiten geht in die falsche Richtung
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger forderte mit Blick auf die Studienergebnisse von der Ampel, Arbeit attraktiver zu machen. „Dazu gehören niedrigere Lohnzusatzkosten, also mehr Netto vom Brutto. Dazu gehören auch mehr Kitas und Ganztagsschulen. Viele Menschen wollen Vollzeit arbeiten, können aber nicht, weil ihre Kinder nicht gut und ausreichend betreut werden“, sagte Dulger dieser Redaktion. Generell sei die Arbeitszeit in Deutschland zu niedrig. Das sei ein Problem für den gesamten Wirtschaftsstandort.
Ähnlich äußerte sich auf Anfrage auch die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK). „Wir müssen versuchen, alle Fachkräftepotenziale zu heben – insbesondere bei den Menschen, die selbst mehr arbeiten möchten“, sagte der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks unserer Redaktion. Eine pauschale Debatte über reduzierte Arbeitszeiten gehe der DIHK zufolge daher in die falsche Richtung. Was im Einzelfall zur Lebenssituation passe, könne aus Sicht der Wirtschaft nicht insgesamt das Ziel sein. „Gesamtwirtschaftlich brauchen wir Anreize, das Arbeitszeitvolumen auszuweiten. Sonst bedeutet weniger Arbeitszeit letztlich auch weniger Wohlstand für unsere Gesellschaft“, erklärte Dercks weiter.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund widerspricht bei einer entscheidenden Annahme
Deutschlands Wirtschaft warb darüber hinaus für verstärkte Anstrengungen, die es ermöglichen, Beruf und Familie besser miteinander vereinbaren zu können. So sei es möglich, weitere Beschäftigungspotenzial zu heben. „Wenn beispielsweise Frauen, die in Teilzeit beschäftigt sind, zwei Stunden pro Woche mehr arbeiten würden, dann entspräche das bis zu 500.000 zusätzlichen Vollzeitstellen“, sagte DIHK-Vize-Chef Dercks.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) widersprach hingegen der Annahme, Deutsche würden nicht genug arbeiten. „Fakt ist, dass in Deutschland nicht zu wenig gearbeitet wird. Das zeigt der Milliarden-Berg an Überstunden, die sich seit Jahren auftürmen, übrigens zur Hälfte unbezahlt. Außerdem haben mehr als vier Millionen Arbeitnehmer*innen auch noch einen Zweit- oder Drittjob“, so DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel zu dieser Redaktion.
Frauen in der Teilzeitfalle: Was sich ändern muss
Für problematisch halten es die Arbeitnehmervertreter hingegen, dass viele Vollzeitbeschäftigte deutlich mehr arbeiten, als gesund sei und gleichzeitig viele Frauen in der Teilzeit- und Minijobfalle festhingen. „Dazu gibt es neben den arbeitslosen Menschen noch circa drei Millionen in der ‚stillen Reserve‘: Menschen, die zwar gerne arbeiten würden, deren Umfeld und Lebenssituation es ihnen aber schwer macht“, sagte Piel weiter. Der DGB forderte deshalb spürbare Entlastung für die Beschäftigten und eine ausreichende Unterstützung bei Kinderbetreuung und Pflege.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi nahm auch Arbeitgeber in die Pflicht. In wichtigen Branchen mit sehr vielen Beschäftigten wie zum Beispiel dem Einzelhandel würden nur Teilzeitjobs angeboten, bemängelte der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) liegt die Teilzeitquote in Deutschland inzwischen bei fast 40 Prozent. Rund 4,5 Millionen Arbeitnehmer sind Verdi zufolge in einem Minijob tätig.