Duisburg. Tausende Arbeitsplätze bei Deutschlands größtem Stahlkonzern Thyssenkrupp Steel wackeln. Doch ein Plan muss noch entwickelt werden.
Wenn Stahlmanager von Thyssenkrupp die Größenordnung ihres Betriebs veranschaulichen möchten, sagen sie gerne, im Duisburger Norden gehe es um eine Fläche, die fünfmal so groß sei wie Monaco. Vier Hochöfen prägen das weitläufige Gelände, das im vergangenen Jahr allerlei Politprominenz angelockt hat. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war da, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ebenso. Olaf Scholz (SPD) kam schon im September 2021 kurz vor der Bundestagswahl, die ihm die Kanzlerschaft einbrachte, zum Werksbesuch ins Ruhrgebiet. Stets ging es um eine große Geschichte: die historische Transformation der Stahlindustrie. Klimaschädliche Hochöfen sollen in einigen Jahren der Vergangenheit angehören, stattdessen will Thyssenkrupp, Deutschlands größter Stahlkonzern, mithilfe von Wasserstoff Grünstahl erzeugen.
Er habe „selten so eine Aufbruchstimmung“ in der Belegschaft erlebt, erzählt Tekin Nasikkol, der Stahl-Gesamtbetriebsratschef, noch Anfang Mai 2023 am Rande des Steinmeier-Besuchs. Doch nun, kaum ein Jahr später, ist Ernüchterung eingekehrt. Es scheint, als sei die Perspektive für viele Stahlarbeiter ungewisser denn je. Tausenden Beschäftigten droht Stellenabbau. Im Duisburger Süden muss die Belegschaft sogar befürchten, dass ein ganzer Standort – die traditionsreichen Hüttenwerke Krupp Mannesmann (HKM) – den Kürzungen zum Opfer fällt. Wie konnte es so weit kommen?
„Wir können nicht so weitermachen wie bisher“
Führende Manager von Thyssenkrupp Steel berichten, die Hütten in Duisburg seien schon seit drei Jahren nicht gut genug ausgelastet. Und Stahlwerke, die nicht annähernd auf Volllast laufen, verbrennen Geld. Dass sich die Nachfrage in naher Zukunft verbessern werde, sei kaum zu erwarten. Prognosen für die Produktionszahlen der Autohersteller, von denen Thyssenkrupp stark abhängig ist, ließen nichts Gutes erahnen. „Wir können nicht so weitermachen wie bisher“, sagte Sigmar Gabriel, der Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp Steel, schon vor einigen Wochen und kündigte eine „grundlegende Neuaufstellung“ des Konzerns an.
Was dies zu bedeuten hat, teilte Thyssenkrupp Steel dann am Donnerstagabend nach einem internen Treffen von Aufsichtsratsmitgliedern mit: Die Werke von Deutschlands größtem Stahlkonzern sollen für eine deutlich geringere Produktion neu zugeschnitten werden. Bislang seien die Anlagen von Thyssenkrupp Steel auf eine Jahresproduktion von rund 11,5 Millionen Tonnen ausgelegt. Künftig sollen es lediglich neun bis 9,5 Millionen Tonnen sein. Damit fällt fast ein Viertel der Produktion weg.
Arbeitsplatzabbau laut Unternehmen „nicht bezifferbar“
Es werde einen „noch nicht bezifferbaren Abbau von Arbeitsplätzen“ geben, „der auch die nachgelagerten Weiterverarbeitungsstufen sowie die Verwaltungs- und Dienstleistungsbereiche betreffen“ werde, heißt es in einer Mitteilung des Unternehmens. Insofern sind derzeit nur Schätzungen möglich. Als eine Faustformel in der Stahlindustrie gilt: „Eine Million Tonnen gleich 1000 Arbeitsplätze.“ Derzeit beschäftigt Thyssenkrupp Steel rund 27.000 Mitarbeiter. Der Schwerpunkt liegt in NRW. In Städten wie Bochum und Dortmund sowie in Südwestfalen wird an großen industriellen Standorten jenes Material verarbeitet, das ursprünglich aus den Duisburger Hochöfen kommt.
Die für den Großraum Duisburg zuständige Industrie- und Handelskammer (IHK) äußert sich besorgt angesichts der Entwicklung bei Thyssenkrupp. „Die Entscheidung von Thyssenkrupp Steel Europe trifft uns am größten Stahlstandort Europas ins Mark“, sagt Stefan Dietzfelbinger, der Hauptgeschäftsführer der Niederrheinischen IHK. „Schwächelt die Stahlbranche, wirkt sich das auf die ganze Wirtschaft aus – weit über die Grenzen von Duisburg und NRW hinaus. Arbeitsplätze, Kaufkraft und Wertschöpfung gehen verloren.“
Was passiert mit welchem Standort? „Es gibt noch keinen Plan“
Noch ist unklar, wie und wo die Einschnitte erfolgen sollen. „Es gibt noch keinen Plan“, sagt ein Arbeitnehmervertreter am Freitagmorgen mit Blick auf die Ankündigungen des Managements rund um Stahlchef Bernhard Osburg. Eine Schlüsselfrage ist, ob und wie es bei HKM im Duisburger Süden weitergeht. Thyssenkrupp Steel ist mit 50 Prozent an der Hütte beteiligt, zu der etwa 3100 Arbeitsplätze gehören. Weitere Anteilseigner sind der niedersächsische Stahlkonzern Salzgitter und der französische Rohrhersteller Vallourec.
Gesamtbetriebsratschef Tekin Nasikkol bemerkt, im gültigen Tarifvertrag von Thyssenkrupp Steel, der bis zum März 2026 laufe, sei nicht nur ein Erhalt der bestehenden Standorte vereinbart, sondern auch ein Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen. „Daran lassen wir nicht rütteln“, so Nasikkol. Das Ziel müsse sein, mit dem Management auch darüber hinaus einen Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen auszuhandeln, betont Detlef Wetzel, der frühere IG Metall-Chef und stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende von Thyssenkrupp Steel.
Wirtschaftsministerin Neubaur: Enttäuscht von Thyssenkrupp
NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) zeigt sich „enttäuscht“ von Thyssenkrupp. Angesichts einer erst vor wenigen Monaten beschlossenen milliardenschweren Staatshilfe sind die Pläne des Managements brisant. Rund zwei Milliarden Euro soll das Unternehmen für den Aufbau einer Grünstahl-Produktion in Duisburg erhalten. NRW will davon bis zu 700 Millionen Euro beisteuern – die größte Einzelförderung in der Geschichte des Landes. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Landeswirtschaftsministerin Neubaur hatten sich für die Unterstützung stark gemacht. Thyssenkrupp Steel sei nun gefordert, „für die Betroffenen faire und tragfähige Lösungen zu finden“, mahnt Neubaur. Das gelte „umso mehr“, da Thyssenkrupp „staatliche Unterstützung in Milliardenhöhe“ erhalte.
Der nordrhein-westfälische Chef der IG Metall, Knut Giesler, sieht bei Thyssenkrupp Steel ebenfalls „Erklärungsbedarf gegenüber der Politik“. Es rufe Fragen hervor, wenn nur einige Monate nach der Förderzusage von Bund und Land eine derart weitreichende Neuaufstellung von Thyssenkrupp Steel angekündigt werde, bemerkt Giesler. „Damit erzeugt man kein Vertrauen“, fügt er hinzu. Die Gewerkschaft werde jedenfalls „nicht akzeptieren, dass zigtausende Menschen um ihren Job bangen müssen“, sagt Giesler. „Thyssenkrupp muss sich seiner Verantwortung für Duisburg, Bochum, Dortmund, Gelsenkirchen, Hagen, das Sieger- und Sauerland bewusst sein.“
Weitere Texte aus dem Ressort Wirtschaft finden Sie hier:
- Vorwerk-Chef: Meine Frau wollte auch keinen Thermomix haben
- Biermarkt: Darum verkauft Stauder schweren Herzens wieder Dosenbier
- Sorgen bei Thyssenkrupp: „Stahlindustrie kämpft um Existenz“
- Galeria-Doppelschlag gegen Essen: Warenhaus und Zentrale weg
- Menschen in Not: So reagieren Einzelhändler auf Bettler vor ihrer Ladentür