Düsseldorf. Unterbrechungen der Stromversorgung sind selten in Deutschland. Westenergie-Chefin Katherina Reiche warnt: Das könnte sich ändern.
Bislang gilt Deutschlands Stromversorgung als sehr verlässlich. Dass es zu Unterbrechungen kommt, ist selten. Jüngsten Daten der zuständigen Bundesnetzagentur zufolge lag die „durchschnittliche Nichtverfügbarkeit von Elektrizität“, wie es im Behördendeutsch heißt, pro Jahr bei rund zwölf Minuten je Verbraucher. Es gebe ein „konstant hohes Qualitätsniveau“, urteilte Netzagenturchef Klaus Müller vor wenigen Wochen. Doch die Lage könnte sich in den kommenden Jahren ändern, warnt Katherina Reiche, die Chefin des Eon-Tochterkonzerns Westenergie. Es zeichne sich eine „Strom-Lücke“ ab. Wenn nicht gegengesteuert werde, könnten Versorgungsunterbrechungen zunehmen, sagt Reiche.
Es ist eine Art Weckruf, den die Westenergie-Chefin bei ihrem Auftritt vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung (WPV) in Düsseldorf formuliert. Ihre Thesen unterfüttert die Managerin mit einer Reihe von Prognosen zur Marktentwicklung sowie Modellrechnungen zum Energiebedarf in Deutschland. „Die Stromnachfrage steigt dramatisch“, sagt Katherina Reiche. Elektroautos, Wärmepumpen, die Elektrifizierung in der Industrie – an vielen Stellen im Land nimmt der Stromhunger zu. Gleichzeitig würden „gesicherte Kapazitäten“ zur Energieerzeugung abgeschaltet – nicht nur die Kernkraft-, sondern zunehmend auch Kohlekraftwerke.
Vor allem an windstillen, bewölkten Tagen könnte dies nach Einschätzung der Westenergie-Chefin zu Problemen führen. Die „Dunkelflaute“, wie das Phänomen in der Energiebranche genannt wird, sei jedenfalls „keine Erfindung von bösen Energieversorgern“, sagt die ehemalige Staatssekretärin. Manchmal könne es „eng werden im Netz“.
Selbst wenn es bis zum Jahr 2030 einigermaßen glatt laufe beim Aufbau von Windrädern und Solaranlagen, sei mit einer Spitzenlast von 120 Gigawatt und einer installierten Leistung von lediglich 90 Gigawatt zu rechnen, sagt Katherina Reiche. „Das heißt: Wir müssen eine Lücke von 30 Gigawatt schließen.“
Westenergie-Chefin Reiche: „Ein Zustand, den kennen wir in Deutschland nicht“
Es gehe ihr nicht ums „Schwarzmalen“, sondern um die Analyse von „Szenarien“ und das Aufzeigen von „Handlungsoptionen“. Wenn nicht gegengesteuert werde, so die Managerin, werde es voraussichtlich zunehmend Unterbrechungen bei der Stromversorgung geben – „ein Zustand, den kennen wir in Deutschland nicht“, fügt Katherina Reiche hinzu.
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In Ländern wie Frankreich und den USA gebe es zwar schon jetzt mitunter stundenlange Stromausfälle, sagt die Westenergie-Chefin, aber dies sei „eine Situation, die hier keiner möchte“. In Deutschland beschwerten sich Unternehmen und Privatverbraucher schon zu Recht, wenn der Strom in seltenen Fällen für wenige Minuten nicht fließe.
Sollten in Zukunft längere Lücken entstehen, sei dies eine Situation, „die dem Industriestandort Deutschland auch erheblich schaden würde“, so Reiche. In Betrieben der Glasindustrie zum Beispiel könnten die Anlagen der Unternehmen Schaden nehmen, wenn der Strom nicht fließt. Konzerne könnten auch über Verlagerungen von Werken nachdenken. „Keine Regierung kann verantworten, dass man über Stunden oder gar länger in Ausfallsituationen kommt“, sagt die Managerin, die innerhalb des Essener Energiekonzerns Eon gewissermaßen die „Herrin der Netze“ ist.
Eon-Tochter Westenergie mit rund 180.000 Kilometer Stromleitungen
Zu Reiches Portfolio gehören unter anderem rund 180.000 Kilometer Stromleitungen und etwa 24.000 Kilometer Gaspipelines in NRW, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen. Hervorgegangen ist das Unternehmen mit rund 10.000 Beschäftigten aus den Netzaktivitäten der ehemaligen RWE-Tochter Innogy. Zur Westenergie gehören auch die Stadtwerke-Beteiligungen von Eon – mit kommunalen Unternehmen wie ELE in Gelsenkirchen, RWW in Mülheim, DEW21 in Dortmund, den Stadtwerken in Essen und Ratingen sowie Rhein-Energie in Köln.
Die Lücke bei der Stromversorgung, die sich auftun könnte, sei „nicht so einfach zu schließen“, gibt Westenergie-Chefin Reiche zu bedenken. Denkbar sei es, mehr Energie aus Nachbarländern wie Belgien, Frankreich und den Niederlanden zu importieren. Dafür müssten allerdings auch die technischen Voraussetzungen geschaffen werden. Reiche plädiert zudem für den raschen Bau neuer Gaskraftwerke und Batteriespeicher. Von den Fortschritten beim Aufbau eines neuen Anlagenparks hänge es ab, ob der Kohleausstieg im Jahr 2030 zu realisieren sei. „Es wird darauf ankommen, wie schnell wir sind“, sagt die frühere CDU-Bundestagsabgeordnete. „Man müsste im Zweifel Kohlekraftwerke länger laufen lassen.“
Bange Frage: „Ist 2030 noch genug Strom für alle da?“
Anfang Februar hatte die Bundesregierung erklärt, Kanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) hätten sich auf „die wesentlichen Elemente“ einer neuen Kraftwerksstrategie geeinigt. Mit dem Bau von Gaskraftwerken, die später auch mit Wasserstoff betrieben werden könnten, solle erreicht werden, dass auch dann genügend Strom produziert wird, wenn wenig Sonnen- und Windenenergie zur Verfügung steht. Die neuen Kraftwerke sollen an sogenannten „systemdienlichen“ Standorten entstehen, also vor allem an Knotenpunkten zu energieintensiven großen Industriekomplexen. Dabei gehe es insbesondere um die Stahl- und die Zementindustrie sowie andere energieintensive Branchen.
Sie registriere mit Blick auf das Thema Versorgungssicherheit teils große Besorgnis bei Unternehmern in Deutschland, erzählt Westenergie-Chefin Reiche. So mancher frage sich, ob im Jahr 2030 „noch genügend Strom für alle da“ sei, sagt die Managerin. „Das muss die Regierung unbedingt ernst nehmen.“