Hagen/Siegen. Der Güterverkehr auf der Schiene ist zum Glücksspiel geworden. Warum nicht nur Firmen betroffen sind, die per Zug beliefert werden.

Chaos, Katastrophe, Unverhältnismäßigkeit. Das sind Vokabeln, die Logistikexperten in südwestfälischen Unternehmen in dieser Woche häufig in den Mund nehmen, aber eigentlich lieber nicht öffentlich aussprechen. Die Einkäufer kommen derzeit ins Rotieren, weil seit Dienstagabend um 18 Uhr in Deutschland vieles still steht. Seitdem wird der Güterverkehr auf der Schiene von der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) bestreikt. Auf rund 100 Millionen Euro pro Streiktag wird von Experten der volkswirtschaftliche Schaden geschätzt. Er könnte sogar weitaus höher ausfallen.

In der Chronologie wird durch den GDL-Streik erst einmal der Güterverkehr ausgebremst. Damit dann auch Produktionen in Unternehmen, die ihr Material überwiegend oder mindestens in relevantem Maße über die Schiene beziehen. Schließlich werden es die Kunden spüren, wenn die Lieferkette stockt oder reißt, auch diejenigen, die selbst mit Schienengüterverkehr direkt nichts zu tun haben.

Lkw-Verkehr reicht nicht

Das Kaltwalzunternehmen Bilstein Group in Hagen hat einen eigenen Gleisanschluss. Dreimal täglich rollen hier normalerweise Züge voller Stahl an. Lieferant ist die DB Cargo. Seit Dienstagabend ist Ruhe am Werk im Ortsteil Hohenlimburg. „Wir sind erheblich betroffen“, sagt Bilstein-Sprecherin Tina Prinz. Die Ankündigung des Bahnstreiks im Güterverkehr sei so kurzfristig gewesen, dass es unmöglich gewesen sei, so schnell ausreichend Ersatz über die Straße zu organisieren. „Wir haben jetzt den Lkw-Verkehr verstärkt, allerdings kann dies die Belieferung über die Schiene nicht ersetzen.“ Es werde auf jeden Fall zu Produktionseinschränkungen kommen, prognostiziert Prinz. Zu den Mengen- und Umsatzausfällen konnte die Bilstein Group am Mittwochmittag, etwa 18 Stunden nach Beginn des Streiks im Güterverkehr, noch nichts sagen. Die Bilstein Group ist der zweitgrößte Kaltwalzbetrieb der Welt und stellt zu 70 Prozent Vormaterial für die Automobilindustrie her. „Wir hoffen, dass sich Gewerkschaft und die Deutsche Bahn jetzt schnell an einen Tisch setzen und zu einem Ergebnis kommen, um den wirtschaftlichen Schaden möglichst gering zu halten“, sagt die Unternehmenssprecherin. Nach mehr als drei Tagen Streik bewegt sich auch Richtung Verhandlungstisch nichts.

Kalkwerk in Menden warnt

Das Management des Kalklieferanten Lhoist Germany appelliert, schnellstmöglich eine Verständigung herbeizuführen: „Die Lhoist Germany – Rheinkalk GmbH als bedeutender Lieferant zur Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur (z.B. Trinkwasser – und Energieversorgung), unter anderem auch vom Standort Menden-Hönnetal, beobachtet den erneuten Bahnstreik mit größter Sorge“, lässt eine Unternehmenssprecherin wissen.

Lesen Sie auch

Warsteiner Brauerei bisher nicht betroffen

Pia Bollkämper von der Warsteiner Brauerei warnt vor einer Ausweitung des Streiks im Güterverkehr: „Bei unserem Schienentransport arbeiten wir hauptsächlich mit der Westfälischen Landeseisenbahn zusammen, daher hat der GDL-Streik derzeit keine Auswirkungen auf unser Geschäft. Ein Restrisiko besteht nur im Falle einer Einbeziehung der Stellwerkmitarbeiter oder einer Blockade von Streckenabschnitten.“

Christian Betchen (43) ist Geschäftsführer der Kreisbahn Siegen-Wittgenstein (KSW), einem kommunalen Eisenbahnunternehmen mit 140-jähriger Geschichte und Sitz in Siegen. Die KSW hat zahlreiche Unternehmen aus Südwestfalen als Kunden, ist aber durch den Streik ebenfalls stark eingeschränkt.
Christian Betchen (43) ist Geschäftsführer der Kreisbahn Siegen-Wittgenstein (KSW), einem kommunalen Eisenbahnunternehmen mit 140-jähriger Geschichte und Sitz in Siegen. Die KSW hat zahlreiche Unternehmen aus Südwestfalen als Kunden, ist aber durch den Streik ebenfalls stark eingeschränkt. © Zentrale | KSW Kreisbahn Siegen-Wittgenstein

Wir jonglieren mit den Kapazitäten wie Personal und Loks. Es gibt eine Sonderbetreuung unserer Kunden. Wir holen zur Not auch Leute aus der Freizeit und sogar aus dem Urlaub.

Dieses Risiko ist allerdings durchaus hoch, erklärt Christian Betchen, Geschäftsführer der Kreisbahn Siegen-Wittgenstein (KSW): „Wenn man Glück hat und auf dem Stellwerk sitzt ein EVGler, dann hat man vielleicht kein Problem.“ EVGler sind die Kolleginnen und Kollegen der Bahn, die in der Konkurrenzgewerkschaft zur GDL, der EVG, organisiert sind. Planbar ist der Güterverkehr daher also kaum, auch wenn die Deutsche Bahn mit ihrer DB Cargo nur noch rund 40 Prozent der Güter auf der Schiene transportiert. Mehr als einhundert andere Eisenbahngesellschaften rangieren und fahren in Deutschland die Waggons, darunter relativ kleine Gesellschaften wie etwa die Dortmunder Eisenbahn, die die Transporte im Hafen der Westfalenmetropole bewegt und letztlich ein Tochterunternehmen der Stadtwerke (DSW21) ist.

Kollektivbetroffenheit der Bahnunternehmen

Momentan nutze die Vielfalt wenig. Es gebe eine Kollektivbetroffenheit durch den GDL-Streik, erklärt KSW-Geschäftsführer Betchen. Die Schienengüterverkehrsunternehmen wie die KSW im Siegerland versuchen derzeit dennoch alles, was möglich ist. „Wir jonglieren mit den Kapazitäten wie Personal und Loks. Es gibt eine Sonderbetreuung unserer Kunden. Wir holen zur Not auch Leute aus der Freizeit und sogar aus dem Urlaub“, versichert Betchen - der seit Dienstag rotiert, weil so viel steht.

20 Prozent aller Güter rollen über die Schiene

Lediglich knapp ein Fünftel aller Güter in Deutschland wird laut Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung über die Schiene transportiert. In großem Umfang handelt es sich dabei etwa um Rohstoffe wie Öl, Kohle, Metalle oder chemische Erzeugnisse sowie um Autos. Damit betrifft der Streik in diesen Tagen besonders umsatzstarke Branchen.

Allerdings ist die Deutsche Bahn nicht der einzige Warentransporteur auf der Schiene. Ihr Marktanteil im Güterverkehr ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Nur noch 40 Prozent des Schienengüterverkehrs kontrolliert der einstige Monopolist. Den Rest teilen sich Wettbewerber untereinander auf.