Essen. Amprion-Chef Brick spürt das Deutschlandtempo beim Netzausbau. Im Interview sagt er, warum das so wichtig ist, auch für niedrigere Strompreise.

Viel mehr Verantwortung geht nicht: Amprions Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass in jeder Sekunde 24 Stunden am Tag wirklich Strom aus unseren Steckdosen und in die Fabriken kommt. Der Dortmunder Netzbetreiber überwacht die Stromautobahnen, schaltet mal Windräder ab, damit weniger rein fließt, und mal konventionelle Kraftwerke hoch, wenn das Netz mehr Strom benötigt. Denn die Leitungen müssen immer genau so viel Strom transportieren, wie gerade verbraucht wird. Das war noch nie trivial und wird mit dem Umstieg auf Erneuerbare Energien immer schwieriger. Ob und wie die Energiewende funktioniert, kann deshalb kaum jemand besser einschätzen als Amprion-Chef Hans-Jürgen Brick und sein 2500-köpfiges Team. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt er, was es braucht, damit wir nach den Atom- auch die Kohlekraftwerke abschalten können, warum nicht erzeugter Strom Milliarden kostet, der Netzausbau jetzt Fahrt aufnimmt und Deutschland auch in diesem Winter keinen Blackout fürchten muss.

Amprion-Chef Hans-Jürgen Brick im Interview mit WAZ-Wirtschaftschef Stefan Schulte.
Amprion-Chef Hans-Jürgen Brick im Interview mit WAZ-Wirtschaftschef Stefan Schulte. © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

Herr Brick, Eon-Chef Birnbaum hat unlängst der „Zeit“ gesagt, ohne Innovationen schaffen wir die Energiewende nicht. Was muss denn aus Ihrer Sicht noch erfunden werden?

Hans-Jürgen Brick: Über große Erfindungen möchte ich nicht spekulieren. Viele Technologien gibt es bereits. Aber woran es bisher mangelt, ist ein gemeinsamer Blick auf das Energiesystem von morgen, auf Strom, Gas bzw. Wärme und Wasserstoff. Wir müssen Erzeugungskapazitäten und Netze gleichzeitig ausbauen und dabei alle möglichen Wechselwirkungen bedenken. Die Innovation wäre, dass alle, insbesondere die Politik, an einem Strang ziehen. Denn dieser Weg ist so anspruchsvoll, dass wir uns keine weiteren Verwerfungen erlauben können.

Klingt nicht so, als würde es rund laufen mit unserer Energiewende.

Brick: Ich bin und bleibe Optimist. Doch wir erleben eine Industrierevolution, für die wir nur 20 Jahre Zeit haben. Die klimaneutrale Stromversorgung wollen wir schon bis zum Jahr 2037 erreichen, das ist aus der Systemsicht übermorgen. In der Endausbaustufe wird Energie nur unwesentlich teurer sein als heute, das ist eine gute Perspektive. Die Schwierigkeit wird aber sein, den Standort Deutschland in der Transformationsphase bis dahin attraktiv zu halten.

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Warum?

Brick: Weil der abrupte Systemumbau mit dem Ausstieg aus Kernkraft und Kohle zwischenzeitlich immense Transformationskosten verursacht – vor allem für die Abschaltung von Windkraftanlagen, wenn zu viel Wind weht ...

… und Sie dann die Betreiber entschädigen müssen.

Brick: Wir müssen den Strom bezahlen, der nicht erzeugt werden konnte. Die Kosten für dieses Engpassmanagement betrugen im vergangenen Jahr bundesweit rund vier Milliarden Euro ...

… das ist doch Wahnsinn.

Brick: Natürlich ist das Wahnsinn. Aber wir sehen auch, wie viele Kosten jeder neue Trassenabschnitt vermeidet. Wir schließen gerade in Niedersachsen eine Lücke zum Netz der Tennet. Neun Kilometer Leitung sorgen dafür, dass die deutschen Engpasskosten um 400 Millionen Euro sinken – pro Jahr. Und wenn unser Erdkabel-Projekt A-Nord von Emden nach Osterath 2027 fertig ist, vermeiden wir dadurch mehr als 700 Millionen Euro im Jahr.

Der Ausbau von Wind- und Solarkraft nimmt ja gerade mit dem von der Ampel-Regierung beschworenen Deutschland-Tempo Fahrt auf, halten die Netze da nicht mit?

Brick: Das vom Bundeskanzler höchstpersönlich eingeforderte Deutschlandtempo spüren auch wir. Die Bundesregierung hat die Planungs- und Genehmigungsverfahren verkürzt, wir kommen jetzt deutlich schneller voran, können wichtige Projekte zwei, drei Jahre früher als ursprünglich geplant fertigstellen, etwa die großen Offshore-Leitungen von der Küste in den Westen und Süden. Aber das ist nur die eine Seite. Wir brauchen auch die notwendigen Produktionskapazitäten bei den Herstellern technischer Komponenten wie z.B. Transformatoren oder Kabel. Denn Amprion wird bis zum Jahr 2027 rund 6 Milliarden Euro allein in NRW investieren. Das ist mehr als ein Viertel unseres gesamten Investitionsvolumens in Höhe von 22 Milliarden Euro. Eine von der Politik initiierte Industrieagenda für die benötigten Produktions- und Installationskapazitäten würde helfen und gleichzeitig einen wichtigen Beitrag für den Wirtschaftsstandort Deutschland leisten.

Trotzdem hinkt der Netzausbau noch hinter dem Ökostrom-Ausbau her.

Brick: Wir liegen bei den großen Stromtrassen hinter den Zeitplänen, das stimmt. Aber wir holen jetzt auf, sind bei der A-Nord-Leitung sogar ein halbes Jahr vor dem Zeitplan. Die Energiewende hat Fahrt aufgenommen. Wir als Netzbetreiber sind zuversichtlich, zentrale Projekte planmäßig oder sogar vorzeitig realisieren zu können. Das hilft enorm, denn je später die Leitungen fertig werden, umso höher sind die Systemkosten, die wir über die Netzentgelte an unsere Kunden weitergeben müssen. In diesem Jahr konnten wir durch einen Bundeszuschuss die Netzentgelte im deutschen Übertragungsnetz stabil halten. Das geht auf unsere Initiative zurück. Auch für das nächste Jahr brauchen wir stabile Netzentgelte. Wir wollen damit in unserem Verantwortungsbereich einen Beitrag leisten, den Industriestandort Deutschland zu erhalten.

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Im vergangenen Jahr haben sich viele Ältere in die Nachkriegszeit zurückversetzt gefühlt, weil es erstmals wieder die Sorge gab, ob die Wohnung im Winter warm bleibt und der Strom nicht ausfällt. Müssen wir uns vor diesem Winter wieder Sorgen machen?

Brick: Nein, die Gasspeicher sind voll und es stehen genügend Reservekraftwerke bereit, um das Netz zu stabilisieren, wenn es sein muss. Zugleich sind mehr französische Kernkraftwerke verfügbar als im vergangenen Jahr. Wir haben im vergangenen Winter zudem eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die uns im kommenden Winterhelfen, wie zum Beispiel eine höhere Auslastung unseres Netzes. Das macht mich sehr zuversichtlich.

Der Ausfall mehr als jedes zweiten französischen Kernkraftwerks war im vergangenen Jahr ein Hauptgrund für den Strommangel und damit für die hohen Preise. Müssen wir jetzt jedes Jahr hoffen, dass der Sommer nicht zu heiß und trocken wird, weil sonst viele französische Akw ausfallen?

Brick: Am liebsten wäre mir, wenn wir die Sicherheit unseres Energiesystems nicht vom Wetter abhängig machten ...

… aber es ist doch absehbar, dass die Sommer tendenziell trockener werden.

Brick: Heiße Sommer, steigende Temperaturen, niedrige Pegelstände sind ein Aspekt, damit können wir umgehen. Deswegen gerät unsere Energieversorgung noch nicht ins Wanken.

Warum?

Brick: Wir haben in Europa das größte zusammenhängende Stromnetz der Welt. Das hat den großen Vorteil, dass sich die nationalen Netze gegenseitig stabilisieren, wenn es darauf ankommt.

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Sie sind entspannt, obwohl wir in Deutschland unsere drei Akw abgeschaltet haben – waren sie doch nicht so wichtig?

Brick: Im letzten Winter waren alle drei deutschen Kernkraftwerke notwendig, um das System zu stabilisieren. In diesem Winter fehlen sie nur für den Strommarkt, was sich allenfalls auf die Preise auswirken könnte. Für die Stabilität des Stromsystems brauchen wir sie nicht mehr.

Weil das böse Wort in der Politik immer noch oft genannt wird: Wie groß ist die Gefahr eines Blackouts?

Brick: Für einen Blackout gibt es überhaupt keinen Anhaltspunkt. Auch im letzten Winter haben wir nur den unwahrscheinlichen Fall gesteuerter Lastabschaltungen als Risiko gesehen.

Also im schlimmsten Fall das Abschalten eines Industriebetriebs oder Straßenzugs?

Brick: Richtig. Wir als Übertragungsnetzbetreiber haben aber keine privaten Endkunden, sondern beliefern die großen Industriebetriebe und die Verteilnetze. Die Entscheidung darüber, welche privaten Verbraucher regional vom Netz genommen werden müssten, treffen daher die Verteilnetzbetreiber. Aber auch diesen Fall halte ich für den kommenden Winter für wenig vorstellbar. Ausschließen lässt sich das aufgrund lokaler technischer Fehler natürlich nie. Mit einem Blackout, der einen großflächigen Zusammenbruch des Stromnetzes beschreibt, hat das aber nichts zu tun.

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Sie haben beschrieben, wie wichtig regelbare Kraftwerke sind. In etwas mehr als sechs Jahren soll das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet werden, auch die riesigen Braunkohleblöcke im rheinischen Revier, die derzeit reichlich Strom ins Ruhrgebiet und in die Industrieregion im Südwesten liefern. Wie sorgenvoll schauen Sie auf dieses Datum?

Brick: Unsere Pläne bis 2030 sind darauf ausgerichtet, den Kohleausstieg zu ermöglichen. Dafür brauchen wir neue Gaskraftwerke, insgesamt mindestens 20 Gigawatt, die später mit Wasserstoff laufen können. Das entspricht etwa 40 bis 50 Kraftwerken, die überwiegend neu gebaut werden müssen. Wir müssen den erneuerbaren Energien genügend gespeicherte Leistung oder gesicherte Kapazitäten gegenüberstellen, auch, weil irgendwann die Importmöglichkeiten an ihre Grenzen kommen.

Dr. Hans-Jürgen Brick, Vorsitzender der Geschäftsführung der Amprion GmbH sitzt am Freitag, den 25. August 2023 in der Grand Hall auf Zollverein in Essen. Er spricht im Interview über verschiedene Themen der Energiewende und spricht darüber wie sein Unternehmen aufgestellt ist. Foto Alexandra Roth / Funke Foto Services
Dr. Hans-Jürgen Brick, Vorsitzender der Geschäftsführung der Amprion GmbH sitzt am Freitag, den 25. August 2023 in der Grand Hall auf Zollverein in Essen. Er spricht im Interview über verschiedene Themen der Energiewende und spricht darüber wie sein Unternehmen aufgestellt ist. Foto Alexandra Roth / Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

Wie realistisch ist es denn, dass alle Gaskraftwerke bis 2030 fertig sind, die ersten Ausschreibungen gibt es ja erst 2024. Und wie sinnvoll ist es, wenn die alle zum Ende des Jahrzehnts gleichzeitig ans Netz gehen?

Brick: Sehr sinnvoll, denn wir brauchen sie dann. Andernfalls wird der Kohleausstieg bis 2030 nicht möglich sein. Entscheidend wird aber auch sein, dass die Gaskraftwerke an den richtigen Stellen im Netz gebaut werden. Wir brauchen sie besonders im Westen und im Süden der Republik. Aus unserer Systemsicht sollten sie nicht nach rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten platziert werden, sondern durch ihre Verortung einen Beitrag zur Systemstabilität leisten.

Wir brauchen auch viel Strom für die Wärme- und Verkehrswende, für Wärmepumpen und Elektroautos. Die Kommunen fangen jetzt erst an, ihre Pläne aufzustellen, müssen bis 2028 fertig sein. Ist das nicht viel zu spät für Sie?

Brick: Wir haben immer dafür geworben, das gesamte Energiesystem in den Blick zu nehmen. In NRW sind wir da schon sehr weit. Gemeinsam mit den Gasnetzbetreibern haben wir dazu eine Methode entwickelt. Wir können Strom, Gas bzw. Wärme und Wasserstoff zusammen planen, damit große Anlagen nicht ungünstig platziert werden. Dieser Systemplan muss aber auf ganz Deutschland ausgeweitet werden, wenn wir die Energiewende zum Erfolg führen wollen.

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Der Blick aufs große Ganze und dass alle an einem Strang ziehen – klingt mehr nach Wunsch als nach Wirklichkeit.

Brick: Aber es geht nur so. Das schaffen wir nur als Gesellschaft zusammen, nicht mit Streit über einzelne Bausteine wie die Wärmepumpen. Förderung ist grundsätzlich richtig, aber bitte keine kleinteiligen Vorschriften! Wir brauchen eine Energiewende, die von den Menschen verstanden wird und sie nicht überfordert. Dafür müssen wir den Nutzen für den Einzelnen und die Gesellschaft klar machen. Sind die Bürgerinnen und Bürger überzeugt, werden sie sich auch für das Sinnvolle entscheiden.

Was das Ganze so bedrohlich wirken lässt: Wir müssen sehr viele Anlagen und Leitungen sehr schnell ausbauen, wir planen mit Gaskraftwerken, die es noch nicht gibt und mit Unmengen an Wasserstoff, von dem wir noch nicht einmal wissen, wo er herkommen soll. Das muss alles gleichzeitig klappen. Das ist doch so, als ob wir von einem Hochhaus springen und hoffen, dass das Netz fertig ist, bis wir unten ankommen.

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Brick: Ich kann solche Sorgen nachvollziehen. Sie zeigen aber nur, wie vielschichtig und groß die Herausforderung ist. Es ist Aufgabe der Politik, alle zu leistenden Beiträge so zu koordinieren, dass sie zusammenpassen. Dazu gehört auch, soziale und wirtschaftliche Verwerfungen zu verhindern. Es wird übergangsweise zusätzliche Belastungen für Industrie und Bevölkerung geben. Die müssen weitestgehend aufgefangen werden, um niemanden zu überfordern.