Wittgenstein. Droht ein Versorgungsengpass für psychiatrischen Behandlungen? Psychiater Rüdiger Saßmannshausen aus Bad Berleburg erklärt die Ursachen.

Die psychiatrische Versorgung in Wittgenstein steht auf der Kippe. Denn der Ärztemangel sei in der Psychiatrie mit am höchsten. Der Berleburger Psychiater Rüdiger Saßmannshausen (68) erklärt, warum es so schwierig ist, einen Nachfolger für seine Praxis zu finden und was das für die Berleburger bedeutet. Außerdem macht er deutlich, worin sich die psychologische und psychiatrische Versorgung unterscheiden.

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Seine Praxis in der Poststraße betreibt Saßmannshausen seit 31 Jahren. Vorher arbeitete der Psychiater unter anderem in der Klinik Wittgenstein. Er hat in Marburg Medizin studiert und danach seine psychiatrische Facharzt-Weiterbildung abgeschlossen. Mit 68 Jahren ist Saßmannshausen eigentlich bereits im Rentenalter, arbeitet aber nach wie vor in Vollzeit. Seinen Ruhestand habe er noch nicht geplant – solange es ihm gesundheitlich passabel gehe und ihm die Arbeit noch Spaß bereite, mache er weiter. Denn seine Praxis sei wichtig für die Region: „Viele Patienten wären aufgeschmissen, wenn ich aufhöre.“ Das Problem sei, das es insgesamt viel zu wenige Psychiater gebe. Saßmannshausen hofft dennoch weiter auf den Hauptgewinn: einen Nachfolger, der eine Affinität zu der Region hat und die Praxis übernimmt.

Wittgenstein: Auswirkungen für Patienten

Was würde ein Aus der Praxis konkret für die Berleburger bedeuten? „Es würden weite Anfahrtswege auf die Patienten zukommen.“ Die Wittgensteiner müssten dann nach Siegen oder Marburg fahren, um psychiatrisch versorgt zu werden. In Biedenkopf seien die nächsten zwei Kolleginnen mit eigener Praxis ansässig. Ein Problem: Viele Patienten dürften aufgrund ihrer Erkrankungen und Medikamente selbst kein Auto fahren. „Dazu kommen die Bewohner von Einrichtungen wie Pflegeheime und die Frage, wer diese Patienten dann lokal betreuen soll?“

Auch die Klinik Wittgenstein habe einen psychiatrischen Versorgungsauftrag. Aber das Krankenhaus habe dasselbe Personalproblem: „Auch die Klinik findet kaum psychiatrische Fachärzte, die in die Region kommen möchten“, so Saßmannshausen. Aus versorgungstechnischen Gründen wäre es für ihn das Beste für Wittgenstein, lokal eine gemeinschaftliche psychiatrische Ambulanz einzurichten.

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Und wie lange müssen Patienten aktuell auf einen Termin warten? „Wir hatten in unserer Praxis bisher noch keine Warteliste.“ Aber es habe das Problem gegeben, dass aufgrund der langen Wartelisten bei den Psychotherapeuten Patienten in die psychiatrische Praxis kamen, die keinen Psychiater benötigten. Neupatienten nimmt Saßmannshausen daher nur noch mit ausdrücklicher Zuweisung an. „Der Hausarzt ist der Lotse und kann nach einer ersten Einschätzung die Patienten gezielt an die richtigen Fachärzte oder Therapeuten verweisen.“ So können lange Wartezeiten verhindert werden.

Wittgenstein: Potenzial für junge Ärzte

Aber wie kann Wittgenstein für den psychiatrischen Nachwuchs attraktiver werden? Grundlegend müsse die Infrastruktur auf dem Land verbessert werden, so Saßmannshausen. Die Abgelegenheit sei ein Problem. Eine weitere Lösung könnte die Förderung von gemeinschaftlichen Filialpraxen sein, in deren Rahmen der ältere Arzt den jüngeren Kollegen am Anfang bei der Übernahme der Praxis hilft. „Mit unserer Erfahrungen können wir sie fachlich unterstützen“, erklärt der Psychiater. Außerdem biete Wittgenstein ein breites und gut organisiertes Ärzte-Netzwerk unterschiedlicher Disziplinen, wovon ein Nachfolger profitieren könne, so Saßmannshausen.

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Für jüngere Kollegen müssten aber noch weitere Anreize geschaffen werden: „Wenn es attraktiv werden soll, sich als Psychiater auf dem Land niederzulassen, muss sich das bei der Honorierung bemerkbar machen und die Vergütung dementsprechend angeglichen werden.“ Im Vergleich zur Großstadt sei die Arbeit als Psychiater auf dem Land nicht so rentabel. „In ländlichen Regionen ist man als Allgemeinpsychiater ein Allrounder und behandle alle möglichen psychischen Erkrankungen“, berichtet er. Aktuell betreut der Berleburger Psychiater etwa 700 Patienten.

Wittgenstein: Psychotherapie oder Psychiatrie?

Wir sind hier in unserem Kreisgebiet, was Psychotherapie betrifft, relativ gut aufgestellt“, sagt Saßmannshausen. Völlig anders sehe das bei der psychiatrischen Versorgung aus: „Wenn ich mich als letzter Psychiater mit eigener Praxis in Wittgenstein komplett rausziehe, kann es im Altkreis zu einem echten Versorgungsengpass kommen“, warnt er. Das Problem sei, dass viele Menschen die entscheidenden Unterschiede zwischen den psychotherapeutischen und den psychiatrischen Behandlungen nicht bewusst seien. Die Berufsgruppen sind zwar beide in verschiedenem Ausmaß an der Versorgung psychisch kranker Menschen beteiligt, es sind dennoch zwei völlig verschiedene Bereiche.

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Die psychotherapeutische Behandlungsform ist für alle Menschen geeignet, die über eine verbale Intervention an ihren persönlichen Lebensverhältnissen etwas verändern wollen. Der Psychiater hingegen ist bei psychischen Erkrankungen dringend erforderlich, die einen bestimmten Schweregrad überschreiten. Es müsse klar differenziert werden: „Hat derjenige einen psychotherapeutischen Hilfebedarf und muss über seine Probleme sprechen? Oder ist der Patient in einer Weise erkrankt, die eine psychiatrische Sichtweise erfordert, wo andere Krankheiten hineinspielen und das Gehirn als Organ mitbetroffen ist?“, erklärt Saßmannshausen. „Es gibt keine Psychiatrie ohne die Psychotherapie, aber es gibt Psychotherapie ohne Psychiatrie.“

µWittgenstein: Großes Ärzte-Netzwerk und Teamwork

Psychiater dürfen Medikamente wie Antipsychotika oder Antidepressiva verschreiben. Psychologen dürfen dies nicht, da sie anders als Psychiater keine ausgebildeten Ärzte sind und ihnen daher das medizinische Wissen über die Wirkstoffe fehle. „Es ist kurios: Die Pharmakologie ist das Steckenpferd der Psychiater und nicht wie irrtümlich meistens angenommen, das der Psychotherapeuten“, so Saßmannshausen. Die psychiatrische Behandlung sei sehr komplex: „Es ist hochinteressant und für mich eines der wichtigsten Fachgebiete, weil es körperliche Ursachen mit psychischen Erkrankungen verbindet und den Menschen als Ganzes sieht“, erklärt er.

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Psychiater müssen sich sowohl mit dem Gehirn als auch organischen Zusammenhängen auskennen. „Die Psychiatrie ist viel umfänglicher als die reine Psychotherapie und dazu gehört auch immer eine ganze Menge Handwerk und Teamarbeit.“ Daher bestehen enge Verbindungen zu den ansässigen Hausärzten, Suchtberatungen und Psychotherapeuten und Einrichtungen wie Pflegeheimen. Dieses Teamwork sei entscheidend, um Patienten lokal bestmöglich zu versorgen.

Wittgenstein: Psychiater als Krisenmanager

In gewisser Weise sei es auch attraktiver, als Psychotherapeut zu arbeiten: „Die Psychiatrie war noch nie eine der beliebtesten medizinischen Fachrichtungen“, so Saßmannshausen. Als niedergelassener Psychiater wisse man zu Beginn der Sprechstunde nie, was einen an dem Tag erwartet. „Das macht die Arbeit sehr abwechslungsreich.“ Die Tätigkeit als Psychotherapeut sei dagegen planbarer und getakteter. Vorzüge, die man in einer psychiatrischen Praxis so nicht habe. „Ich bin häufig erstmal Krisenmanager“, berichtet der Psychiater. Ein weiterer Nachteil sei das Abrechnungssystem: Psychotherapeuten werden nach einem Stundensatz honoriert, während dem Psychiater wie jedem Facharzt ein vorgegebenes Honorarbudget zur Verfügung stehe. Es lohne sich aber nach wie vor, eine Praxis zu führen.

Saßmannshausen vertritt die Auffassung, dass Ärzte für den ganzen Menschen zuständig sind. „Körperliches und Seelisches, das gehört gerade in der Psychiatrie untrennbar zusammen. Aber die Versorgung wird in immer mehr Fachbereiche aufgespaltet“, bedauert der Psychiater. Dadurch gehe viel im Gesundheitswesen verloren. Denn auch die Krankenkassen orientierten sich immer mehr an der Wirtschaftlichkeit und weniger an dem für die Gesundung des Menschen wirklich Erforderlichen. Er würde daher eine Entwicklung hin zu einer ganzheitlicheren Medizin begrüßen.

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