Bad Berleburg. Benjamin ist 35 Jahre alt und depressiv. Hier schildert er seinen Alltag mit der Krankheit, seine Gefühle und die Reaktionen darauf.
„Jemand, der mich nicht oder nicht gut kennt, würde wahrscheinlich nicht auf die Idee kommen, dass ich mit schweren Depressionen kämpfe.“ Benjamin ist 35 Jahre alt und lebt in Wittgenstein. Hier schildert er seine Erfahrungen mit der Depression:
„Ich habe einen anspruchsvollen Job, gehe ins Kino oder ins Restaurant. Nach außen hin sieht das alles ganz normal aus. Es kostet aber jedes kleinste bisschen Energie, diese Fassade aufrecht zu erhalten. Ein Lächeln, das Normalität suggerieren soll, ist ähnlich anstrengend wie ein Fünf-Kilometer-Lauf. Denn eigentlich hat man Blei im Kopf und jede Gefühlsäußerung tut weh. Ein Arbeitstag ist ein Flug zum Mond, denn so etwas wie Konzentration oder Fokus ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Sobald ich unbeobachtet bin und diese sehr gut antrainierte Maske von mir abfällt, bin ich nichts mehr außer Depression. Dunkel, kalt und schwer. Dann erhole ich mich von dem Aufrechterhalten des Gerüsts der Normalität. Die Maske ist nötig, sobald ich draußen bin.
Denn wer selbst nicht drunter leidet, versteht es nicht. Und wer es nicht versteht, unterschätzt es. Nein, mir fehlt keine frische Luft. Und ich muss mich auch nicht „einfach mal entspannen“. Ich will einfach ganz normal behandelt werden. Aber sobald Leute wissen, dass man depressiv ist, gehen sie entweder weg (auch aus deinem Leben) weil sie nicht wissen wie man damit umgehen soll. Oder sie haben lauter „gute Tipps“ wie Schokolade essen oder spazieren gehen. „Geh doch mal raus“. Oder sie sagen „reiß dich doch mal zusammen.“ Ich habe gar kein Interesse am Leben. Ich lebe, weil ich damit andere vor Traurigkeit bewahre. Ich arbeite, damit ich die Fassade eines vernünftigen Lebens aufrechterhalten kann – damit sich die, die mir wichtig sind, keine Sorgen um mich machen müssen.
Ein Tabuthema?
Nicole Göbel, Chefärztin der Psychosomatik, Psychotherapie, psychiatrische Rehabilitation und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Suchtmedizin und Verkehrsmedizin der Vamed Rehaklinik Bad Berleburg kennt die Probleme, mit denen Menschen mit Depression zu kämpfen haben. Und es werden immer mehr. „Weltweit konnte man im Jahr 2020 einen deutlichen Anstieg depressiver Störungen in Zusammenhang mit der Coronapandemie verzeichnen“, so Göbel. „Aus psychiatrischer Sicht denke ich jedoch, dass dies auch in einem engen Zusammenhang mit der Enttabuisierung der Depression in unserer Gesellschaft zusammenhängt. Es zeigt sich eine langsam wachsende Akzeptanz in unserer Gesellschaft, sodass sich immer mehr Menschen trauen sich frühzeitig an den Hausarzt, Psychiater oder Psychotherapeuten zu wenden.“
Seit vielen Jahren setzt sie sich dafür ein, „dass depressive Menschen in der Öffentlichkeit nicht stigmatisiert oder sogar diskriminiert werden. Insbesondere die Depression ist eine der häufigsten psychiatrischen Krankheitsbilder. Im Laufe des Lebens erkrankt etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann an einer Depression. Durch diese Häufigkeit kennt sicherlich jeder Mensch eine Handvoll Angehörige, Freunde oder Bekannte, die bereits einmalig von einer solchen Erkrankung betroffen waren. Ich finde es schade, dass weiterhin gegenüber Menschen mit Depressionen in unserer Gesellschaft Vorurteile bestehen.“
Angst vor Stigmatisierung
Leider sei es auch heute noch so, dass viele Betroffene ihre Erkrankung im gesellschaftlichen Kontext verheimlichen, aufgrund der großen Angst vor Stigmatisierung – so, wie es auch Benjamin tut. „Im Laufe der letzten Jahre sehe ich jedoch eine zunehmende Akzeptanz in unserer Gesellschaft.“
Doch es ist nicht leicht, eine Krankheit zu verstehen, die man selber nicht kennt. Daher gibt es auch heute noch Klischees, mit denen Menschen mit einer Depression zu kämpfen haben. „Depressive sind immer traurig“….“Die hat doch keine Depressionen, die lacht doch“ und ähnliche Sprüche hören depressive Menschen des Öfteren. Dabei ist das Leben nicht nur schwarz oder nur weiß.
„Insbesondere depressive Menschen sehen sich heute in der Gesellschaft damit konfrontiert, dass sie doch gut aussehen würden, vital wirken und Lachen könnten. Auch Kommentare wie „du kannst ja mit Freunden im Garten sitzen oder Spazieren gehen“, sind keine Seltenheit. Psychische Erkrankungen, gerade die Depression, sind Erkrankungen, die man häufig von außen als Laie in keiner Weise feststellen kann. Insbesondere diese Problematik macht es für die Betroffenen so schwierig, denn mit einem eingegipsten Bein oder Krücken würde man sich solchen Kommentaren gar nicht aussetzen müssen“, erklärt Nicole Göbel. „Leider wird durch die Mannigfaltigkeit dieser Klischees auch deutlich, dass noch ein großer Gesprächsbedarf sowie Aufklärungsbedarf über die Erkrankung in unserer Gesellschaft besteht.“
Die Depression vs. depressive Verstimmung
Manchmal wird eine eine Depression auch mit einer depressiven Verstimmung abgetan. Dabei ist eine Depression „aus psychiatrischer Sicht eine klar definierte Erkrankung mit typischen Symptomen wie gedrückter Stimmung, einem Interessensverlust und Freudlosigkeit sowie einer Verminderung des Antriebs und einer erhöhten Erschöpfbarkeit. Zusätzlich treten jedoch häufig noch weitere Symptome wie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen oder verminderter Appetit auf. Auch ein vermindertes Selbstwertgefühl oder auch Schuldgefühle mit negativer oder pessimistischer Zukunftsperspektive sind bezeichnend. Häufig kommt es auch zu Suizidgedanken, welche die Betroffenen in besonderem Maße belasten“, erklärt Göbel.
Unter einer depressiven Verstimmung hingegen „kann man sich eine Symptomatik aus den bereits genannten Punkten in milderer Ausprägung und kürzerer Dauer vorstellen. Die diagnostische Abklärung bedarf jedoch einem erfahrenen Behandler und ist auch für diesen nicht immer einfach.“
Die Ursachen für eine Depression kann vielfältig sein. „Einerseits geht man davon aus, dass jeder Mensch mit einer genetischen Vulnerabilität (Verletzlichkeit) für eine psychische Erkrankung geboren wird. Zu diesen genetischen Einflüssen können dann andererseits äußere Faktoren, wie beispielsweise kritische Lebensereignisse, hinzutreten. Dazu können Schicksalsschläge zählen, wie der Tod einer nahestehenden Person, oder eine schwere Erkrankung aber auch länger andauernde Belastungen wie Konflikte in der Partnerschaft, der Familie oder am Arbeitsplatz. Auch bestimmte körperliche Erkrankungen oder bestimmte Medikamente können Risikofaktoren für die Entstehung einer depressiven Erkrankung darstellen. Negative Denkmuster können auch depressiv wirken, ebenso wie Vereinsamung oder Mobbing.“
Wie können Angehörige depressiv Kranke unterstützen?
Gerade für Angehörige ist es nicht einfach, das Verhalten und die Gefühle des Betroffenen zu verstehen. Doch gerade die Familie kann eine große Stütze sein. „Die Unterstützungsmöglichkeiten können sehr vielfältig sein. In schweren depressiven Phasen kann es notwendig sein, den Betroffenen zu entlasten und ihm Aufgaben abzunehmen. Genauso wichtig kann es jedoch sein, ihn bei zunehmender Stabilisierung immer wieder zu motivieren Dinge anzugehen, sich etwas zuzutrauen und ihm unterstützend zur Seite zu stehen. Auch im Rahmen der Rückfallprophylaxe kommt Angehörigen ein großer Stellenwert zu. Häufig werden diese bereits in die Behandlung beim niedergelassenen Psychiater als auch beim Psychotherapeuten integriert. Sinnvoll kann es auch sein, als Angehöriger eines depressiv erkrankten Menschen eine entsprechende Angehörigengruppe aufzusuchen. Insbesondere dort finden Angehörige Gleichgesinnte und können ihre Erfahrungen austauschen“, sagt die Ärztin.
Generell gilt: „Depressionen können wirkungsvoll und gut behandelt werden insbesondere, wenn sie frühzeitig diagnostiziert werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sich der Betroffene frühzeitig an den Hausarzt wendet und dieser eine Behandlung einleiten kann.“ Das weiß auch Benjamin. „Das Einzige, was wirklich hilft, sind engmaschige Therapie und Medikamente. Aber dafür muss man bereit sein.“ Therapie bedeutet Arbeit – mit und an sich selbst.