Wittgenstein. . Der Altkreis Wittgenstein wird sich in den nächsten Jahren dramatisch verändern. Die Menschen in Bad Berleburg, Bad Laasphe und Erndtebrück stehen vor enormen Herausforderungen, für die jetzt Weichen gestellt werden können.

Der Erndtebrücker Ratsherr Matthias Althaus (UWG) findet: „Momentan haben die Wenigsten die Brisanz erkannt. Die Debatte findet nur an der Oberfläche statt.“ Wir wollen das ändern. Westfalenpost und Westfälische Rundschau möchten mit den Menschen in Wittgenstein über Fakten und Folgen diskutieren.

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Dazu stellen wir in der Serie „Analyse Wittgenstein“ Zahlen und Prognosen zusammen und sprechen die Dinge an, die sich in den nächsten 15 Jahren radikal verändern werden. „Die ersten Auswirkungen werden wir bereits in fünf Jahren sehen. Die Glut glimmt schon und der Wind wird kommen“, malt der Bad Laaspher CDU-Politiker Martin Achatzi ein düsteres Bild.

Tausende Einwohner weniger

Kern dieser Überlegungen sind Studien des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik sowie der Bertelsmann Stiftung, die mit leichten Abweichungen zu dem gleichen Schluss kommen: Die Bevölkerung in den drei Kommunen wird stark zurückgehen. Das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik geht von einem Schwund von 15 Prozent aus. 6000 Menschen im Jahr 2030 weniger - also die Größenordnung der Gemeinde Erndtebrück wird verschwinden. Ein Drittel der Bevölkerung werden Rentner sein.

Schulabgänger, Auszubildende und Studenten werden Wittgenstein verlassen und später wohl auch nicht zurückkommen, um hier Familien zu gründen. Das sagen die Berechnungsmodelle voraus. „Es wird ein krasses Missverhältnis zwischen Rollatoren und Kinderwagen geben“, formuliert der Bad Berleburger Kommunalpolitiker Bernd Weide (SPD) seine Gedanken zum demografischen Wandel.

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© Manuela Nossutta/Grafik

Vereinsleben im Wandel

Das hat massiven Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Das Vereinsleben wird sich verändern. Schon jetzt können viele Fußballvereine keine eigenen Jugendmannschaften mehr aufstellen und aus Männer- und Frauenchören werden gemischte Chöre. Die Kirchengemeinden schrumpfen, Pfarrstellen werden zusammengelegt. Die Dorfkneipen und Tante-Emma-Läden gehören in vielen Ortschaften schon jetzt der Vergangenheit an. Immer mehr Häuser stehen leer und die Immobilienpreise sinken, weil auch die Nachfrage sinkt. „Rund um die Feudinger Kirche gibt es viel Leerstand und keiner will kaufen“, gibt Achatzi ein Beispiel aus einer Musterregion des interkommunalen Leerstandsmanagements.

Steigende Verschuldung

Bernd Weide macht am Beispiel Bad Berleburg deutlich, was dies für die kommunalen Haushalte bedeutet. Derzeit betrage die Pro-Kopf-Verschuldung 3500 Euro. Allein um diese bei einer sinkenden Bevölkerung konstant zu halten, müsste die Stadt ab 2018 jährlich 660 000 Euro Schulden abtragen. Eine Summe, die an anderer Stelle im Haushalt eingespart werden müsste. Außerdem sinken bei abnehmender Einwohnerzahl auch die Schlüsselzuweisungen des Landes.

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Teure Infrastruktur

Die Kommunen müssen viel Geld in den Erhalt von Straßen und Versorgungseinrichtungen stecken. Matthias Althaus nennt die Abwassergebühren in Erndtebrück als Negativbeispiel. Millionen-Investitionen, die andernorts auf 15 000 oder 20 000 Menschen umgelegt werden, bleiben in Erndtebrück auf den rund 7000 Schultern hängen. Noch kritischer beobachtet er die Ausweisung von Neubaugebieten. Die sollen die Attraktivität der Ortschaften steigern, verursachen aber Kosten für die nächsten 30 Jahren, die dann immer weniger Menschen abzahlen müssen. Dadurch steigen die Gebühren und die machen den Ort unattraktiv. Vieles in dieser Politik sei noch auf steigende Bevölkerungszahlen ausgelegt, warnt Althaus.

Gesundschrumpfen durch intensives Sparen 

Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, es wird trotz der Haushaltskonsolidierung noch intensiver gespart werden müssen. „Schrumpfen ist immer viel schwieriger als wachsen“, formuliert das Bernd Weide und vergleicht den Prozess mit dem Umzug einer kleiner werdenden Familie in eine kleineres Haus. Man werde sich von liebgewonnenen Möbel trennen müssen. Die Möbel sind in diesem Fall Straßen, Gebäude und öffentliche Einrichtungen. Woher kommen beispielsweise die Kinder für Kindergärten und Schulen? Wer kann die stetig steigenden Lasten für den Erhalt von Straßen finanzieren. „Bei dieser klaren Tendenz wird es nicht leichter, eine Route57 zu begründen“, sagt sogar Bernd Weide, der zu den Befürwortern einer bessere Verkehrsanbindung gehört.

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Datenautobahn fehlt

Neben den Straßenanbindungen kommt der Datenautobahn eine große Bedeutung zu. Doch der Netzausbau stockt. Das trifft Privatleute und Unternehmen gleichermaßen. „Bei bald 6000 Kunden weniger sinkt auch das Interesse der Netzbetreiber in Breitband zu investieren“, sagt Achatzi und warnt vor einer Abwärtsspirale, weil Menschen und Unternehmen Wittgenstein gerade deshalb verlassen könnten.

Arbeitskräfte anlocken

Mit der sinkenden und gleichzeitig älter werdenden Bevölkerung in Wittgenstein gehen aber nicht nur die Kommunen schweren Zeiten entgegen, sondern auch die Wirtschaft. Mit den Rentnern scheiden nicht nur Arbeitskräfte aus dem Berufsleben aus, auch Fachwissen geht verloren, das durch fehlende Nachwuchs-Fachkräfte nicht mehr aufgefangen werden kann.

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Die Firmen arbeiten schon jetzt daran, als Arbeitgeber größtmögliche Attraktivität zu entfalten. Aber reicht das aus? Eines ist Bernd Weide klar: „Zuwanderung durch Integration von Flüchtlingen könnte das Problem abmildern, umkehren oder auch nur aufhalten lässt sich diese Entwicklung dadurch aber nicht.“

Einwanderung fördern

Allerdings spielen Flüchtlinge in den Überlegungen eine Rolle. Wittgenstein hat mit Einwanderern Erfahrung. Glaubensflüchtlinge aus deutschen Staaten, Hugenotten aus Frankreich und nicht zuletzt Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg, später Gastarbeiter und die Einwanderungswellen der Russlanddeutschen und der Kriegsflüchtlinge der 1990er Jahre haben das gezeigt.

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Die beiden Flüchtlingsunterkünfte in Bad Berleburg und Bad Laasphe sind nur Durchgangsstationen. Beide werden aber mit ihren Maximalbelegungen auf die Einwohnerzahlen angerechnet. Das heißt, ohne sie wäre die aktuelle Zahl um gut 700 bis 800 geringer. Die Menschen dort werden anderen Kommunen zugewiesen. Allerdings könnten sich Berleburg, Laasphe und Erndtebrück gezielt um den Zuzug von jungen Flüchtlingsfamilien mit Bleiberecht und einer Arbeitsperspektive bemühen. „Jeder Flüchtling ist zu begrüßen“, sagt Martin Achatzi. „Wir sollten qualifizierten Menschen eine Chance geben, hier zubleiben.“

Fördertöpfe für Integration

Es gibt Gelder des Landes, die von Kommunen für die Integration von Flüchtlingen eingesetzt werden können oder an das Land zurückfließen müssen. Dieses Geld könnte in die Sanierung von Leerständen und Anmietung von Wohnraum oder in Sprachförderung und Berufsqualifizierungen fließen. Auf diese Weise können Bleibeperspektiven verbessert werden. Gleichwohl, und dass macht Weide deutlich, wird allein der potenzielle Zuzug von vielleicht einigen hundert Flüchtlingen den Rückgang um 4000 bis 6000 Menschen nicht kompensieren können.