Siegen. Krankhafte Fettsucht macht Betroffenen buchstäblich das Leben schwer, nicht nur körperlich. In der Selbsthilfegruppe Siegen finden sie Halt.

Oft sind es „nur“ abfällige Blicke, immer wieder sind da aber auch böse Kommentare. An krankhaftem Übergewicht (Adipositas) erkrankte Menschen haben immer wieder mit Beleidigungen und Diskriminierungen zu kämpfen. „Ich habe die Blicke ignoriert, verdrängt und mich nicht als dick angesehen“, sagt Stefan Truß. Im Türkei-Urlaub habe ein alter Mann zu ihm gesagt: „Wie kann man so dick sein?“ Später hieß es in der Kita seines Kindes: „Dein Papa ist aber dick.“ Zu Spitzenzeiten wog der mittlerweile 43-Jährige 155 Kilo, doch Diäten brachten nur kurz Erfolge, immer wieder griff der „Jojo-Effekt“. Schließlich entschied er sich für eine Magenverkleinerung – so wie viele der Betroffenen in der Selbsthilfegruppe (SHG) Adipositas Siegen. Sie erzählen, wie sie ihre Krankheit erleben und was ihnen geholfen hat.

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„Mit jedem Kilo, das du weniger hast, geht’s dir besser“, sagt Stefan Truß. Sandra Graf-Steinbrück (50) hat die SHG Adipositas Siegen vor rund zehn Jahren gegründet, will ihre Erfahrungen weitergeben und Betroffene auf ihrem Weg begleiten. Sie hat zig Kilos abgenommen, auch sie ließ sich den Magen verkleinern. Unter bestimmten Bedingungen übernähme die jeweilige Krankenkasse die Kosten für die OP. Es gäbe aber auch viele positive Beispiele, bei denen es Betroffene ohne OP geschafft hätten, wieder ein als gesund betrachtetes Gewicht zu erlangen. Die Erfahrung in der Selbsthilfegruppe zeige aber, dass viele Erkrankte sich nach einiger Zeit für eine Magenverkleinerung entscheiden würden, schildert die Selbsthilfegruppe-Gründerin. Menschen, die über einen längeren Zeitraum einen Body-Mass-Index (BMI) ab 35 haben, würden es häufig nicht eigenständig schaffen, abzunehmen, erklärt auch Privatdozent Dr. Sebastian Dango, Facharzt für Chirurgie und Viszeralchirurgie vom Klinikum Siegen.

Mit jedem Kilo, das du weniger hast, geht’s dir besser.
Stefan Truß

Bei Stefan Truß sorgte ein schwerer Arbeitsunfall dafür, dass er sich weniger bewegte, die Kilos mehr wurden. Schließlich wurde er auch anfälliger für andere Krankheiten, zum Beispiel Diabetes. „Auch die Unbeweglichkeit merkt man.“ Bei Natascha Reinhardt (35) fing es mit 16 Jahren an, dass sie innerhalb von einem Jahr 30 Kilo zunahm. „Es lag an der Schilddrüse“, sagt sie. „So schlimm“, dass später ihre Krankenkasse die Kosten für ihre Magenverkleinerung übernahm, habe sie ihr Gewicht nicht wahrgenommen. „Ich habe tausend Diäten gemacht, tausend Euro für Diät-Programme ausgegeben.“ Schließlich hätten auch ihre eigenen Kinder zu ihr gesagt: „Mama, du bist ganz schön dick.“

Jeder Neunte extrem übergewichtig

Immer mehr Menschen in Deutschland leiden unter Fettleibigkeit. Bereits bei jedem Neunten wurde Adipositas diagnostiziert, wie aus einer im November 2023 in Hannover veröffentlichten Analyse der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) hervorgeht. Bei Frauen ist sogar jede achte extrem übergewichtig.

Die Zahl Betroffener stieg insgesamt zwischen 2012 und 2022 und damit binnen zehn Jahren um 30 Prozent. Die größte Zunahme verzeichnet die KKH bei den 25- bis 29-jährigen sowie 30- bis 34-jährigen Männern mit rund 69 beziehungsweise 66 Prozent. Bei Frauen gibt es den größten Anstieg ab einem Alter von 85 Jahren mit einem Plus von 64 Prozent, gefolgt von der Gruppe der 45- bis 49-Jährigen mit einem Plus von 47 Prozent.

Adipositas oder Fettleibigkeit ist eine Ernährungs- und Stoffwechselerkrankung mit starkem Übergewicht, die sich in einer übermäßigen Zunahme des Körperfetts mit krankhaften Auswirkungen zeigt. Je höher das Gewicht ist, desto höher ist das Risiko vor allem für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Brust-, Darm- und andere Krebsarten, Diabetes Typ 2 sowie chronische Atemwerkserkrankungen. Nicht zuletzt mindert Fettleibigkeit die Lebenserwartung. Nach Einschätzung der Deutschen Adipositasgesellschaft leiden schätzungsweise 17 Millionen Menschen hierzulande unter der Erkrankung. AFP

Nach der OP nimmt sie ab, wird selbstbewusster. „Ich kann mich jetzt wieder mit meinen Kindern bewegen, spielen und toben.“ Gerade das ist für viele Eltern, die an Adipositas erkrankt sind, wieder ein enormer Gewinn an Lebensqualität. „Und ich kann wieder in normale Läden gehen und shoppen“, sagt Natascha Reinhardt und freut sich. Ihre Kinder seien „richtig stolz“ auf sie. „Jetzt wollen sie andauernd mit mir Wettrennen machen.“

Ich kann mich jetzt wieder mit meinen Kindern bewegen, spielen und toben.
Natascha Reinhardt über ihr Leben, nachdem sie viele Kilos abgenommen hat

Siegen: Adipositas-Erkrankung ist oft mit einem langen Leidensweg verbunden

Jasmine Milito (23) erzählt: „Ich war schon immer kräftiger als die anderen.“ Für sie sei das Essen oft ein „kleines Heilmittel“ gewesen, „immer mein bester Freund“. Um Traumata aus der Kindheit und Mobbing in der Schule zu bewältigen, habe sie immer wieder dazu gegriffen. „Ich habe viel in mich reingefuttert.“ Immer wieder nahm sie zu, immer wieder machte sie Diäten. Als sie mit ihrem ersten Kind schwanger war, habe sie gedacht: „Ich esse für zwei. Ich kann essen, was ich möchte“, erzählt Jasmine Milito. Nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten begann abermals das „Frustessen“, danach folgte die nächste Diät. Bei ihrer nächsten Schwangerschaft habe sie wieder viel gegessen. „Dann habe ich meinen Lebensgefährten kennengelernt. Er war mein Fels.“ Nach dem Wochenbett habe sie viel Sport gemacht, weniger und gesund gegessen. „Aber das Abnehmen hat nicht funktioniert.“ Als ihre Tochter schließlich auf einem Klettergerüst war und sie nicht mitmachen konnte, „war ich kurz vorm Heulen“, sagt Jasmine Milito. „Es hat Klick gemacht.“

Wenn man alleine diesen Weg geht, kann es immer zu einem Rückfall kommen. Hier habe ich Halt.
Jasmine Milito über die Unterstützung in der SHG

Als sie schließlich eine Adipositas-Spezialklinik aufsuchte, hatte sie einen BMI von 62. „Mir wurde gesagt: Egal, welche Diät ich mache, es kommt immer wieder.“ Auch sie entschied sich daher für eine Magenverkleinerung. Nun kommt sie regelmäßig zu den Treffen der Adipositas-Selbsthilfegruppe und betont: „Wenn man alleine diesen Weg geht, kann es immer zu einem Rückfall kommen. Hier habe ich Halt.“

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Nach einer Magenverkleinerung könne man aber nicht einfach so weiterleben wie zuvor, unterstreicht Christiane Brado (35). Sie könne zum Beispiel nun nur noch eine Kinderportion Spaghetti essen. Oft müssen Betroffene auch wichtige Nährstoffe für den Rest ihres Lebens über Tabletten aufnehmen. Essen muss wieder neu gelernt werden. Ob eine Magenverkleinerung für einen Patienten oder eine Patientin infrage kommt, muss immer sorgfältig unter Einbeziehung ärztlichen Rats abgewogen und entschieden werden. Jasmine Milito betont: „Man hört oft, dass die OP der leichte Weg ist und kriegt viel vorgeworfen. Ich weiß, was die Wahrheit ist. Ich mache das für mich und meine Kinder.“

Nähere Informationen zur SHG Adipositas Siegen gibt es bei Sandra Graf-Steinbrück, Tel. 0163-8424230 oder 0271-23 57 29 35, und im Netz unter www.shg-adipositas-siegen.de.