Netphen. Nach der Demo: Die Flüchtlings-Wohncontainer werden da aufgestellt, wo sie keine Nachbarn haben. Der Bürgermeister hatte in der Sitzung gedroht.
Die Wohncontainer für Geflüchtete werden in der Schmellenbach in Netphen, auf der Braas in Netphen und auf dem Grundstück des ehemaligen Deuzer Lokschuppens aufgestellt. Das hat der Rat in mehreren geheimen Abstimmungen beschlossen. Die vier untersuchten Standorte in Hainchen spielten in der Debatte keine Rolle mehr. Vorangegangen war eine Protestkundgebung auf dem Rathausplatz.
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Die Demo: „Wir fühlen uns ohnmächtig“
Um die 100 Menschen, vor allem aus Hainchen, haben sich auf dem Rathausplatz versammelt. „Wir fühlen uns ohnmächtig“, sagt Hainchens Ortsbürgermeister Tobias Schattenberg und betont: „Wir haben keine Probleme mit Flüchtlingen.“ Die Familien, die in der Gemeinschaftsunterkunft im ehemaligen Gasthaus Haincher Höhe wohnen, seien integriert. Ein „komisches Gefühl“ hätten die Einwohner aber bei der Vorstellung, 22 allein lebende Männer in einer Containeranlage am Dillweg zu wissen – die Verwaltung hatte diesen Standort mit der Priorität 2 favorisiert, auf dem das Vorgänger-Provisorium des Irmgarteichener Kindergartens St. Cäcilia stand. 532 Haincher hätten sich an der Unterschriftensammlung beteiligt, mehr als die 498, die zuletzt an der Kommunalwahl teilgenommen hätten. „Ihre Ängste werden aber offenbar nicht gehört.“
Besonders ärgert die Haincher, dass als Standorte Spiel-, Bolz- und Festplätze ausgewählt wurden. „Für wie viel hat man eigentlich die Deuzer Schule verkauft?“, fragt jemand, „das wäre ein guter Platz gewesen.“ So wie 2015, als die Stadt dort eine Unterkunft einrichtete. „Wir haben hier doch nichts, was will da einer machen?“, wendet ein anderer ein. Tobias Schattenberg bestätigt: „Wir wohnen gern am Arsch der Welt“ – aber mit mindestens einem eigenen Auto.
Nach und nach kommen auch Stadtverordnete heraus, die eben in ihren Fraktionen diskutiert haben, wie sie gleich im Rat abstimmen werden. „Seien Sie versichert, wir werden uns das nicht leicht machen“, sagt Benedikt Büdenbender (CDU), „auch Ihre Stimmen werden gehört.“ „Hainchen bringt sein Soll“, sagt Tobias Glomski (Grüne) und deutet damit schon an, dass der Rat sich eher zu anderen Ortsteilen orientieren wird. Lother Kämpfer (SPD) erntet ein Pfeifkonzert, als er sagt, dass die Haincher Argumente auch gegen andere Standorte vorgebracht werden könnten. „Wir werden alle Standorte prüfen, aber Hainchen nicht von vornherein rausnehmen.“ „Sie haben Sie doch nicht alle“, ruft jemand. In dem 900-Einwohner-Ort seien bereits 120 Geflüchtete untergebracht. Ortsbürgermeister Tobias Schattenberg ermahnt die Kommunalpolitiker. Dies sei ein „Zeichen, sich ein bisschen mehr Mühe mit uns zu geben.“
Die Ratssitzung: Die Drohung nach Hainchen
Polizei und Ordnungsbehörde bewachen den Rathauseingang. Mehr als 50, so die Verabredung, dürfen nicht in den Ratssaal oben in den vierten Stock hinein – die Brandschutzbestimmungen setzen das Limit bei insgesamt 99 Personen. Tobias Schattenberg darf vor Beginn der Sitzung zu den Ratsmitgliedern sprechen, dann führt Bürgermeister Paul Wagener in das Thema ein. Erklärt, warum die Stadt nicht anders handeln kann. Und dass der Rat seit gut einem Jahr Bescheid gewusst habe, nicht erst seit ein paar Wochen. Die Warnung vor der Stimmung in der Bevölkerung, die „kippen“ könne? „Ich befürchte sogar, dass die Stimmung schon gekippt ist. Aber wir sind dafür nicht verantwortlich.“
Bürgermeister Wagener verändert seinen Vorschlag, aus vier favorisierten Standorten drei auszuwählen. Jetzt sollen es alle vier sein: die Braas, der Güldenweg in Netphen über dem SGV-Heim, der Lokschuppen in Deuz und der Dillweg in Hainchen. Ab Montag werde die Georg-Heimann-Halle, die eigentlich wieder für den Sportunterricht des Gymnasiums zur Verfügung stehen soll, wieder mit Geflüchteten belegt. „Und wenn das so weitergeht, in zwei Monaten die Dreisbachhalle.“ Wer lange genug ausharrt, hört die Fortsetzung ein paar Stunden später: „Die nächste wäre dann die Bürgerbegegnungsstätte in Hainchen.“ „Erzählen Sie doch nicht so einen Quatsch“, ruft Sebastian Zimmermann (CDU).
Die Debatte: Die Entdeckung der Schmellenbach
Es dauert eine Weile, bis die Debatte eskaliert. Benedikt Büdenbender (CDU) ist dafür, die Container zu kaufen, aber vorerst noch keine Standorte festzulegen. Die Nähe von Spiel- und Bolzplätzen, Wohnbebauung, Schulen und Kitas soll ausgeschlossen werden, eine Bushaltestelle soll aber in der Nähe sein. „Es gibt auch Ortschaften, in denen noch keine Menschen untergebracht sind.“ Zudem könne die Zeit genutzt werden, die Unterbringung in leer stehenden Wohnungen und Häusern zu prüfen.
„Schluss mit lustig“, sagt Klaus-Peter Wilhelm (UWG), „wir werden nicht dulden, dass auch nur eine Halle belegt wird.“ Die Braas und der Lokschuppen sollen Standorte werden. Und die Schmellenbach, die zwar auch in der Liste der 15 von der Verwaltung untersuchten Möglichkeiten auftaucht, aber verworfen wird: Das Gelände unterhalb des Sportplatzes sei verpachtet, zu abgelegen und müsse erst aufwändig erschlossen werden. Lothar Kämpfer (SPD) findet dagegen, in der Schmellenbach könnten sogar 40 statt der an den anderen Standorten vorgesehenen 22 Plätze geschaffen werden. Und er warnt: Der Streit um die Standorte dürfe „nicht auf dem Rücken dieser Menschen“ ausgetragen werden, „die können nichts dafür.“ Beigeordneter Andreas Fresen zum Schmellenbach-Standort: „Es ist alles möglich, aber günstig wird das nicht.“ Kämmerer Christian Walde rechnet vor: Rund 1,5 Millionen Euro kosten die Container, rund 1,2 Millionen stehen der Stadt an Fördermitteln des Landes zur Verfügung.
Das Finale: 135 Stimmzettel für 80 Wohnplätze
Es gibt eine Sitzungsunterbrechung, danach erneuert Sebastian Zimmermann (CDU) den Antrag, noch keine Standorte festzulegen. „Irgendwann wird auch die CDU eine Entscheidung treffen“, sagt Ignaz Vitt (UWG). Die Suche nach Leerständen, die genutzt werden können, werde vergeblich sein, „da sind wir auf verlorenem Posten.“ Bürgermeister Paul Wagener beschließt, zuerst über die Standorte abstimmen zu lassen. „Wenn alle daneben gehen, können wir über die anderen Anträge abstimmen.“ Lothar Kämpfer (SPD) beantragt geheime Abstimmungen. Benedikt Büdenbender (CDU) findet das „schade“: „Wir haben alle mit offenem Visier diskutiert.“ Thorsten Görg (UWG) schließt sich an: „Dann sehen die Leute, was hier los ist.“
Die Hainchener, die längst aus dem Rennen sind, bleiben. Die allmählich aus dem Ruder laufende Ratssitzung fesselt. Was das denn bedeuten würde, wenn alle fünf Standorte eine Mehrheit bekämen, fragt Sven-Hendrik Schulz (Grüne). Auch Olaf Althaus (FDP) will wissen, ob dann fünf Anlagen errichtet werden oder die Verwaltung drei aussucht. „Ich versteh‘s nicht.“ Im Raum stehen bleibt die Forderung des Bürgermeisters nach vier Standorten.
Die fünf Abstimmungen geben Klarheit: Mit 11 gegen 15 Stimmen abgelehnt wird – bei einer Stimmenthaltung – Dreis-Tiefenbach. Mit sieben gegen 20 Stimmen geht der Güldenweg aus dem Rennen. Bleiben der Lokschuppen (17 gegen 10), die Braas (16 gegen 11) und die Schmellenbach (20 gegen 7). Macht insgesamt 80 Plätze, so viele, wie der Bürgermeister zu Beginn gefordert hat. Bei 135 verbrauchten Stimmzetteln. Für die Haincher hat sich ihr Protest gelohnt. Die Container werde keine Nachbarn haben, außer auf der Braas: die andere städtische Flüchtlingsunterkunft.
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