Siegen. Einblicke in die Drogenszene: Ein junger Siegener rutscht ab – und sticht auf seinen Freund ein, der ihn angeblich auch als Botenjunge ausnutzte.

Die Schilderungen des jungen Mannes (21) werfen ein Schlaglicht auf die Siegener Drogenszene. Zumindest schildert der Angeklagte, der im April in einer Siegener Wohnung einen anderen mit mehreren Messerstichen schwer verletzt haben soll, am Freitag, 18. August, vor der Großen Strafkammer eine kurze, verworrenen Vorgeschichte dieser Gewalteskalation. Die Tat gibt er zu, seiner Darstellung nach handelte er in Notwehr.

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Der schlaksige junge Mann, weiches Gesicht, Brille, Bartflaum, seit der Tat in Untersuchungshaft, ist sichtlich nervös. Viele Freunde und Angehörige des Opfers sitzen im Gerichtssaal. Er beginnt stockend zu erzählen, teils undeutlich Wörter verschluckend, teils immer schneller sprechend. Während der gesamten Aussage reibt er die Handflächen gegeneinander, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück, erzählt eine Geschichte, wie er abgerutscht sei, sich herumkommandieren ließ von einem Mann, der aber auch sein Freund war. Es ist auch für das Gericht nicht einfach, seinen Schilderungen zu folgen, Sinn und Zusammenhang darin herzustellen.

Angeklagter in Siegen: Er warf 50 Euro aus dem Fenster, davon sollte ich Kokain holen

Durch einen gemeinsamen Bekannten hätten sie sich zwei Monate vor der Tat kennengelernt, es habe sich schnell ein recht enges Verhältnis entwickelt. Regelmäßig hätten sie Zeit zusammen verbracht, dabei Kokain konsumiert. Er hatte schon Gerüchte über den anderen gehört: Dass der gewaltbereit sei, Crack rauchen und „Leute abziehen“ würde. Bald sei er zu einer Art Botenjungen für den 30-Jährigen geworden, zum Befehlsempfänger. Einmal habe der andere 50 Euro aus dem Fenster geworfen, davon sollte er Kokain holen. Immer wieder habe er ihn zu Fremden geschickt, Drogen besorgen, einmal seien sie nach Frankfurt gefahren, für 10 Kilo Kokain für 20.000 Euro. „Das wäre ziemlich billig“. Der Ältere habe sich mehrfach Geld geliehen und nicht zurückgegeben.

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Er bekam ein schlechtes Gewissen, sagt der 21-Jährige vor Gericht. Sie hätten immer Drogen genommen, wenn sie sich sahen, „er war vermutlich jeden Tag drauf.“ Sein Vater habe diese Situation, seinen Lebenswandel mitbekommen, sich viele Sorgen gemacht. „Ich war emotional nicht stabil“, sagt er. Einmal habe er mit dem späteren Geschädigten im Auto gesessen, als ihn die Tränen deswegen übermannt hätten. Da habe der andere ihn in den Arm genommen und getröstet. Einmal half er ihm bei einer Bewerbung. Der Kontakt sei dann weniger geworden, aber nicht abgerissen. „Er war nicht ganz ehrlich zu mir“: Der andere habe erzählt, dass seine Mutter tot, dass er lange im Gefängnis gewesen sei.

Große Mengen Drogen aus einer Dealer-Wohnung in Siegen holen ohne zu zahlen

Eine womöglich entscheidende Episode: Der Ältere habe ihn mit zu einer Wohnung am Fischbacherberg genommen, um für ihn Drogen „auf Kommission“ zu holen – mitnehmen, später bezahlen. Als sich der Dealer irgendwann an den Angeklagten wandte und Drohungen in Richtung des Freundes ausstieß – „er wollte ihm in die Kniescheiben schießen“ –, habe er die Situation zu erklären versucht. Der Freund sei aufgebracht gewesen, nach einem längeren Telefonat hätten sie sich aber wieder vertragen.

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In der Tatnacht habe sein Freund ihn angerufen, mehrfach; demnach beschimpfte und bedrängte er ihn Geld abzuheben, obwohl er keines hatte. Er sollte zu einer Wohnung in Siegen kommen, sollte dann jemanden aus dem nahen Marienkrankenhaus abholen, der übel zugerichtet gewesen sei. Er vermutete, dass sein Freund damit zu tun hatte, so der 21-Jährige – er habe gewusst, dass er auf Crack aggressiv sei. Zurück in der Wohnung sei er immer komischer, aggressiver, bedrohlicher geworden: „Ich habe überhaupt nicht verstanden, warum.“ Sein Freund habe dann gesagt: Der, den er aus dem Krankenhaus geholt habe – „der hat oft Scheiße gemacht. Ich habe ihm oft verziehen. Was du gemacht hast, war schlimmer.“ Es ging dem 30-Jährigen wohl um die Sache mit dem Dealer: „Wir haben zusammen einen Typen abgezogen und er ist zu ihm und hat gesagt ich war’s.“ Dabei habe er ihn in einer Weise angestarrt, „das war überhaupt nicht mehr lustig“, so der Angeklagte; der andere habe sich weiter hineingesteigert. Er habe immer mehr Angst bekommen.

Aussage vor Landgericht Siegen: „Glaube, ich habe ihm noch in den Rücken gestochen“

Dann sollte er sich mit dem Rücken zur Küchenzeile in der Wohnung stellen, erzählt er, der andere kam näher, weniger als einen halben Meter, habe nach einem Küchenmesser gegriffen, „ich habe Todesangst bekommen!“, so der 21-Jährige. Er habe immer ein starres Messer, innen in einer Scheide in der Hose, das wusste der ältere. Und verlangte danach. „Ich konnte es ihm nicht geben, es war das einzige, was ich noch hatte.“ Er habe sich beinahe eingenässt, der andere gegrinst. Er habe nicht zustechen wollen, „aber ich hatte Angst und wusste, ich muss das machen“. Er zog demnach ohne Vorwarnung („das hätte nichts gebracht“) sein Messer, stach „einfach drauf“, genau könne er sich gar nicht erinnern. „Ich glaube, ich habe ihm noch in den Rücken gestochen.“

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Der Verletzte habe ihm in die Augen gesehen, nicht im geringsten den Eindruck von Verwundung oder Schmerzen gemacht, „als wäre nichts gewesen“. „Wenn du mich liebst, dann rennst du jetzt“, habe er gesagt. Und das tat er, die Treppe runter und weg, in Angst, verfolgt zu werden. Das Messer warf er weg. Den anderen wegstoßen sei nur theoretisch eine Option gewesen, sagt er auf Nachfrage: Er sei körperlich deutlich unterlegen. „Und er stand an diesem Tag ziemlich unter Drogen.“

Geschädigter leidet unter der Tat, ist aus Siegen weggezogen: „Werde bedroht“

Auf Anraten seines Anwalts verweigert der 30-Jährige jede Aussage im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln – er habe früher welche genommen, Kokain, Crack nicht. Weil er von der Familie des Angeklagten bedroht werde, sei er aus Siegen weggezogen, will seine neue Adresse nicht laut im Gericht nennen. Auch zum Tathergang macht er keine Angaben. Den 21-jährigen habe er etwa zwei Monate vor der Tat kennengelernt, ihr Verhältnis bezeichnet er als „freundschaftlich“.

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Er habe immer noch Schmerzen, auch psychische Probleme, auch deswegen sei er weggezogen, so der Geschädigte. Nach wie vor könne er nicht gut schlafen, habe Albträume. Schon im Krankenhaus habe das angefangen, nachts habe er immer gedacht „er kommt, er kommt gleich rein“. Das habe er nicht mehr ausgehalten und sich gegen ärztlichen Rat selbst entlassen. Inzwischen sei er in Behandlung zur Traumabewältigung. Es sei ihm wichtig, wieder in die Bahn zu kommen.