Kreuztal/Siegen/Karlsruhe. Es stand Aussage gegen Aussage, Landgericht Siegen verhängte gegen angeblichen Vergewaltiger drei Jahre Freiheitsstrafe. BGH hebt das Urteil auf.
Erneut hat der Bundesgerichtshof (BGH) ein Urteil des Siegener Landgerichts aufgehoben und an eine andere Strafkammer zurückverwiesen. Nicht der erste Fall dieser Art: Zuletzt im Mai hatte es einen dritten Anlauf gegeben, einen sexuell gestörten Mann korrekt zu verurteilen. Nachdem das BGH Siegener Strafkammern zwei Mal Fehlurteile attestiert hatte, ging der Fall ans Landgericht Hagen. Nach einer Revision des Verurteilten wird am Donnerstag, 17. August, ein Fall um mehrere angebliche Vergewaltigungen neu aufgerollt – in Siegen.
Frau wirft ihrem Ex zwei Vergewaltigungen in ihrer Kreuztaler Wohnung vor
Angeklagt war der Mann wegen Vergewaltigung in drei Fällen, eine davon in Tateinheit mit Körperverletzung. Opfer sei seine Ex-Partnerin, zu der er seit Ende 2015 eine „On-Off-Beziehung“ mit mehreren Trennungen und anschließenden Versöhnungen unterhielt und mit der er eine gemeinsame Tochter hat.
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Erster Fall, Weihnachtsnacht 2017: Zuvor hatte sich die Frau von ihm getrennt, laut Gerichtsakten wegen zunehmender Gewalttätigkeit. Er sei in ihre Wohnung in Kreuztal eingedrungen, habe sie ausgezogen, ihren Hals gefasst und sie auf dem Sofa vergewaltigt. Ihre Bitten aufzuhören, habe er ignoriert. Der zweite Fall, ein halbes Jahr später, sei ähnlich verlaufen: Er sei in die Wohnung gekommen, habe die Bitte zu gehen ignoriert, sie am Hals gefasst und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Sie habe sich zwar zwischenzeitlich losreißen können, sei aber wiederum vergewaltigt worden, wiederum habe sie ihn vergeblich gebeten, damit aufzuhören.
Landgericht Siegen spricht den Angeklagten in zwei Fällen schuldig
Das Landgericht Siegen sprach den Beschuldigten 2021 in einem dritten Fall frei und verurteilte ihn gleichzeitig wegen der anderen beiden Fälle zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Beide Taten hatte der Mann bestritten – er habe vielmehr mit seiner Ex über die Beziehung sprechen wollen oder über den Umgang mit der Tochter. Die Verurteilung stützte das Landgericht Siegen demnach wesentlich auf die Aussage der Frau, die als Nebenklägerin auftrat: Sie wurde als glaubhaft erachtet.
Bundesgerichtshof hat rechtliche Bedenken zum Urteil des Siegener Landgerichts
Das sieht der BGH anders und hat „durchgreifende rechtliche Bedenken“, was die Beweiswürdigung angeht. Hier habe „Aussage gegen Aussage“ gestanden, daher müssten alle Umstände besonders sorgfältig abschließend gewürdigt werden – also auch die Vorgeschichte der belastenden Aussage, Motiv, Plausibilität, Details und Stimmigkeit. „Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht“, stellt der BGH fest. Die sogenannte „Konstanzanalyse“ des Landgerichts Siegen sei in „zweifacher Hinsicht rechtsfehlerhaft“: Demnach habe es Widersprüche in der Aussage des angeblichen Opfers gegeben, was das Gericht laut Beschluss aber unbedenklich fand. Nur die konstante Aussage, dass die Frau in der Tatnacht gegen ihren Willen in ihrer Wohnung vergewaltigt wurde, während der Mann die Hand an ihrem Hals hatte, sei zu wenig für einen Schuldspruch.
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Widersprüche, wenig Details führte das Landgericht demnach auf die kange Zeit zwischen Tat und Prozess zurück – immerhin mehr als drei Jahre. Ebenfalls nicht ausreichend, so der BGH: Diese Erwägungen „erfüllen (...) nicht die an eine Konstanzanalyse zu stellenden Anforderungen“, so der Karlsruher Strafsenat – die angeblich begangenen Taten hätte die Frau nicht zwischendurch vergessen können.
BGH: Strafkammer in Siegen muss Vorgeschichte und Kontext stärker beachten
Urteile nur anhand von Zeugenaussagen zu fällen, ist generell kompliziert. Das menschliche Gehirn ist durchaus in der Lage, „sich selbst zu belügen“, auch unabsichtlich. Menschen glauben mitunter, dass sie etwas selbst erlebt haben, wo sie gar nicht dabei waren. In der Rechtsprechung wird das genauso wie bei polizeilichen Ermittlungen berücksichtigt – wer etwas selbst beobachtet oder erlebt hat, kann das meist besser erzählen und auch genau so wiederholen als „zusammengesetztes“ oder weitererzähltes Wissen. Im Juristendeutsch: „Bei der Schilderung von körpernahen Ereignissen ist im Allgemeinen zu erwarten, dass der Zeuge insbesondere globale Körperpositionen bei der Haupthandlung auch über längere Intervalle in Erinnerung behält“ – eine Frau kann sich mit hoher Wahrscheinlichkeit über lange Zeit noch gut daran erinnern, in welcher Haltung ihr Peiniger sie vergewaltigte.
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Für die erneute Verhandlung muss die zweite Siegener Strafkammer nun darauf achten, wie die Aussage der Frau entstanden ist – ob es „fremdsuggestive Einflüsse“ gab, also ob sie sich oder ihr jemand anderes die Vergewaltigung eingeredet haben könnte, um sich Vorteile im Umgangsrecht zu verschaffen etwa. Ebenfalls eine Rolle spielen sollte laut des BGH, dass die Frau eine diagnostizierte bipolare affektive Störung hat – das hatte das Landgericht demnach auch zu wenig berücksichtigt. Nicht zuletzt habe sich das Paar 2020, also etwa ein Jahr vor dem ersten Prozess, einander wieder angenähert.