Siegen. Ärztemangel, überlastete Notaufnahmen: Bei der medizinischen Versorgung in Siegen-Wittgenstein sehen Experten weiter dringenden Handlungsbedarf.

Ärzte-Nachwuchsmangel auf dem Land, überlastete Notaufnahmen in den Krankenhäusern: Fachleute sehen akuten Handlungsbedarf bei der medizinischen Versorgung in Siegen-Wittgenstein. Vor allem die Ärzteschaft auf dem Land hat es schwer, junge Nachwuchskräfte zu gewinnen. Der Personalmangel ist so groß, dass viele niedergelassene Ärzte ihren Ruhestand hinausschieben – weil sie niemanden finden, an den sie ihre Praxis übergeben können (wir berichteten).

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„Es ist eine große Herausforderung. Wir müssen es irgendwie schaffen den Bereich der Hausarztmedizin interessant zu machen“, sagt der Allgemeinmediziner Prof. Dr. Dr. Charles Adarkwah. Möglichkeiten seien etwa Praktika und Famulaturen. Und: „Zeigen, dass Hausarztmedizin schön und abwechslungsreich sein kann, dass man mit Kollegen im Team arbeitet und, dass man nicht unbedingt von Montag bis Freitag oder Montag bis Sonntag für die Patienten erreichbar sein muss“, so der Hausarzt (Familydocs) bei einer Podiumsdiskussion zum Thema. Eingeladen in die Siegerlandhalle hatte am Mittwoch, 2. August, der gesundheitspolitische Arbeitskreis der NRW-CDU.

Medizinische Versorgung in Siegen-Wittgenstein „in richtige Richtung“ – aber...

Eigentlich habe sich gerade in der Allgemeinmedizin in den letzten Jahren vieles zum Guten gewendet. Neben einer geringeren Arbeitsbelastung im Vergleich zu früher habe sich auch die Vergütung auf das Niveau von Facharztpraxen angepasst, betont Dr. Torsten Kiel, der eine Hausarztpraxis in Weidenau führt. Stefan Spieren, Facharzt für Allgemeinmedizin und -chirurgie, bestätigt das: „Das Schwarzsehen war vor drei bis vier Jahren. Es geht hier in die richtige Richtung“, meint er zur Lage auf dem Land. Der Fokus müsse nun darauf gelegt werden, die Vorzüge der Arbeit stärker zu betonen. Dazu gehörten vor allem planbaren Arbeitszeiten, was der jüngeren Generation wichtig sei. „Die jungen Leute sagen ganz klar: Ich will einen geregelten Tagesablauf“, so der stellvertretende Leiter der Bezirksstelle der Kassenärztlichen Vereinigung KVWL.

Auch in den Krankenhäusern sehe die Personalsituation nicht besser aus, daher werde an Konzepten gefeilt, um bei Medizinstudierenden schon früh das Interesse für das Siegerland zu wecken. Dass die Uni Siegen keine medizinische Fakultät bekommt (Projekt „Medizin neu denken“) mache es dabei deutlich schwerer, Interessierte für die Region zu begeistern – diese Nicht-Entwicklung sei im Vergleich zu anderen Städten ein deutlicher Wettbewerbsnachteil, sagt Prof. Christian Brülls, Chefarzt für Intensiv- und Notfallmedizin im St. Marien-Krankenhaus. Daher müsse man angehende Mediziner bereits während des Studiums ansprechen, ihnen Schnupperkurse oder Praktika anbieten. „Wir müssen die Studierenden sei es aus Marburg, Gießen oder Köln, zur Stadt Siegen bringen“, so Brülls.

Viele Experten im Plenum glauben jedoch nicht, dass das allein ausreichen wird – zu groß seien die politischen Fehler der Vergangenheit gewesen. „Man hat einfach gepennt, mehr Leute auszubilden“, sagt Prof. Christian Tanislav, ärztlicher Direktor des Diakonie Klinikum Jung-Stilling, über die „NC-Problematik“ – ein Medizinstudium ist nur mit sehr gutem Abitur möglich. Die aktuellen politischen Maßnahmen würden nicht ausreichen, um eine ärztliche Versorgung langfristig zu gewährleisten, vor allem nicht auf dem land. „Besser ist vielleicht nicht gut genug. In zehn Jahren, vielleicht schon in fünf, werden uns die allgemeinmedizinischen Absolventen aus den Kreiskliniken nicht mehr daraus retten“, warnt Markus Pingel, ärztlicher Direktor der DRK-Kinderklinik.

Mehr Medizin-Studienplätze reichen für Siegen-Wittgensteiner Ärzte nicht aus

Aktuell reagiert die Politik mit einer Erhöhung der Studienplätze – insgesamt 23 Prozent zusätzlich seien ausgewiesen worden, dazu gebe es 180 weitere Studienplätze für Bewerber mit schlechteren Abschlüssen, wenn sich diese im Gegenzug für mindestens zehn Jahre zur Arbeit in einer Landarztpraxis verpflichten, berichtet CDU-Landtagsabgeordnete Anke Fuchs-Dreisbach. Aus Sicht der Ärzteschaft reiche das aber bei Weitem nicht aus, den kommenden Mangel auszugleichen.

Zumal sich die seit Jahren angespannte Personalsituation in den Facharztpraxen inzwischen auch in den Kliniken bemerkbar mache, berichtet Dr. Torsten Kiel: „Wir kriegen die Patienten nicht mehr bei den Spezialisten unter.“ Die Folge: Die Leute gehen aus der Praxis quasi direkt in die Notaufnahme, weil man sich dort um sie kümmern muss. Dort steigen dadurch Wartezeiten und die Arbeitsbelastung fürs Klinikpersonal.

„Oma ist heute Google“ – Internet kompensiert mangelnde medizinische Bildung nicht

Zunehmend gehen auch Personen, die eigentlich gar nicht notfallversorgt werden müssten, direkt in die Klinik – viele wissen, dass sie mit ihren Problemen nur schwerlich eine Arzt finden. Aus Sicht des Neurologen Dr. Michael Jürgens, Leiter der Zentralen Notaufnahme am Klinikum Siegen, aber auch eine Frage der medizinischen Bildung in der Bevölkerung: Viele Patienten könnten ein medizinisches Problem nicht richtig einschätzen, so seine Einschätzung – das liege unter anderem auch an der mangelnden Aufklärung in Schulen. Dr. Torsten Kiel sieht die Ursache vor allem im Internet: „Das Problem ist, dass die Oma heute Google ist“, sagt er – bei Symptomen wird im Netz geschaut, wo alle möglichen, auch schweren, Erkrankungen als mögliche Ursache aufgeführt werden. Angesichts von Überbelastung gelte es, die knappen Ressourcen richtig zu nutzten und nur tatsächliche Notfälle direkt zu behandeln, was auch gesetzlich klar vorgegeben sei, erklärt Prof. Tanislav.

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Ingo Fölsing, Geschäftsführer des Klinikums Siegen, meldet sich aus dem Publikum zu Wort und kritisiert die lokale und regionale Politik der vergangenen Jahrzehnte in Kreis Siegen-Wittgenstein scharf: Viel zu spät sei reagiert worden, die Maßnahmen würden kaum ausreichen, um das Nachwuchs-Problem wirksam zu bekämpfen. Auch bei Notaufnahmen habe er eine andere Meinung: Letztlich seien Patienten Kunden, die für eine Leistung zahlen. Sie seien daher in jedem Fall in der Klinik willkommen. Diese Sichtweise weisen die Ärzte auf dem Podium deutlich zurück.