Siegen-Wittgenstein. Von wegen trocken: Das erste „Kreis-Geschichtsbuch“ macht richtig Spaß: Neues und Interessantes über die Heimat und wie sie wurde, was sie ist.

„Zeitspuren in Siegerland und Wittgenstein im preußischen 19. Jahrhundert“ heißt das Buch, das der Siegener Historiker Dieter Pfau herausgegeben hat. Für Siegen-Wittgenstein ist es das erste „Kreis-Geschichtsbuch“, das zeitlich bei der Gründung der beiden Kreise Siegen und Wittgenstein im Jahr 1817 einsetzt und mit dem ersten Teilband die politische und wirtschaftliche Entwicklung bis zu den ersten Signalen der sich anbahnenden 1848er Revolution ausleuchtet.

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So weit, so trocken. Natürlich stellen die Historiker Dieter Pfau und seine Ko-Autorin Elisabeth Strautz dar, wie sich Siegerland und Wittgenstein „an der Schwelle zur Industrialisierung“ – so der Untertitel des 320-Seiten-Bandes – entwickelt haben. Sie tun dies, indem sie bekannte Quellen zusammenführen und andere, bisher nicht genutzte Quellen, vor allem aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, erstmals erschließen. So ein Buch kann man Seite für Seite lesen. Oder, dem ernsthaften Wissenschaftler womöglich ein Graus, wie einen Steinbruch benutzen. Auch dabei erfährt man Neues über das Siegerland und seine Bewohner. Und es macht Spaß. Deshalb tun wir’s hier. Buchstabe für Buchstabe des Alphabets.

Als sich der Preußen-Staat mit den Hütten- und Hammergewerken anlegte

Adolph Albert Dresler (1781-1846), Kaufmann und Politiker, kaufte die Rostwiese am Fuß des Siegbergs, legte Bewässerungs- und Abzugsgräben an, errichtete eine Garnbleicherei und schließlich eine Textilfabrik mit der ersten mit Wasserkraft betriebenen Spinnmaschine in Westfalen. Mit den Erträgen aus den Textilbetrieben, die wiederum nur durch die Entwicklung des Siegerländer Wiesenbaus möglich waren, finanzierten seine Nachkommen den Bau von Stahl- und Schmelzhütten und Hämmern in Müsen, Littfeld und Dahlbruch.

So sah Siegen 1839 aus.
So sah Siegen 1839 aus. © Stadtarchiv Siegen

Bergbeamte des preußischen Staates machten sich die Hütten- und Hammergewerken zu Feinden – sie wollten sich in ihr ausgefeiltes Zunftsystem nicht hereinreden lassen. Durch den begrenzten Vorrat an Holzkohle und die jahreszeitlichen Unterschiede der Wasserkraft waren die Betriebszeiten der Werke beschränkt und genau verteilt, die Ausfuhr von Holzkohle und Roheisen verboten. In Lohe baute der Staat einen modernen Holzkohle-Hochofen und unternahm erste Versuche, Eisen mit Koks zu schmelzen – statt mit Holzkohle.

Student wird Revolutionär, kommt in Festungshaft – und wird dann Landrat in Siegen

Chausseen sollten „mächtige Hebel für die inländische Industrie“ werden. Manche Straße gleiche „oft mehr einer Wasserleitung als einem Wege“, räumte die Bezirksregierung ein. Erstes großes Projekt wurde der Ausbau der Verbindung von Erndtebrück über Hilchenbach nach Ferndorf. Bis dahin ging es entweder direkt an der Ginsburg vorbei steil hinab oder – ebenfalls mit 20 Prozent Gefälle – an der Ruine der Graf-Gerlachs-Burg vorbei herunter nach Sohlbach und Netphen. 1827 wurde der Bau beschlossen, 1832 war die Straße fertig.

Mühlenweiher und königliche Pachtmühle am Fuß des Siegbergs
Mühlenweiher und königliche Pachtmühle am Fuß des Siegbergs © Stadtarchiv Siegen

Demagogen verfolgte der preußische Staat nach der Juli-Revolution von 1830. Unter den in den Burschenschaften aktiven Studenten waren auch ein paar Siegerländer, die sich wegen „revolutionärer Umtriebe“ verantworten mussten, unter ihnen Arnold Ludwig von Holtzbrinck, der zu sechs Jahren Festungshaft verurteilt, nach zwei Jahren begnadigt – und 1846 zum Landrat des Kreises Siegen ernannt wurde.

Keiner wollte ihn – aber Trainer war 24 Jahre Bürgermeister von Siegen

Eisen und Stahl waren die Grundlage der Siegerländer Industrie. 269 Arbeiter waren 1836 in den Eisen- und Stahlhütten der Gewerkschaften – das waren Zusammenschlüsse selbstständiger Gewerken, allein 44 in der Dahlbrucher Eisengießerei und weitere 112 in den staatlichen Hütten in Lohe, Müsen und Littfeld. 309 Arbeiter verdienten ihr Brot in den Eisen- und Stahlhämmern der Gewerkschaften.

Stellen den neuen Zeitspuren-Band vor: Landrat Andreas Müller, Förderer Klaus Vetter, Autoren Dieter Pfau und Elisabeth Strautz (von links)
Stellen den neuen Zeitspuren-Band vor: Landrat Andreas Müller, Förderer Klaus Vetter, Autoren Dieter Pfau und Elisabeth Strautz (von links) © Steffen Schwab

Friedrich Karl Trainer war 24 Jahre lang, bis 1838, Bürgermeister der Stadt Siegen. Ungeeignet für dieses Amt hielt ihn der Arnsberger Oberpräsident Ludwig Freiherr von Fincke. Sogar das preußische Innenministerium riet zu seiner „Entfernung aus dem Bürgermeister-Amte“, als er einem steckbrieflich Gesuchten die Durchreise ermöglichte, indem er das königliche Dienstsiegel aus der Hand gegeben hatte. Die Siegener wurden Trainer aber nicht los, weil sie seine Pension nicht bezahlen konnten.

Germanna hieß die Siedlung in der englischen Kolonie Virginia, die 42 Auswanderer, vor allem aus Müsen und Trupbach, 1711 gründeten. Die Berg- und Hüttenleute und ihre Familien errichteten dort einen der ersten Hochöfen Amerikas. Weitere 53 Auswanderer aus dem Freudenberger Raum errichteten 1738 die Siedlung Bethlehem in Pennsylvania, begleitet von einem Missionar der Brüdergemeine. Anders als in Wittgenstein, wo Armut die Menschen zu massenhafter Auswanderung trieb, wanderten aus dem Siegerland Familien aus, die nach wirtschaftlichem Erfolg strebten.

1816, das Jahr ohne Sommer: Hunger in Wittgenstein durch Vulkanausbruch

Hunger litten 1817 die Menschen in Wittgenstein. Nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora 1815 in Indonesien wurde 1816 ein Jahr ohne Sommer – und ohne Ernte. Fürst Friedrich Carl ließ Getreide aus Russland („Ostseekorn“) einführen, das zusammen mit Kartoffelmehl zu Kartoffelbrot verbacken wurde. Oberpräsident von Fincke sprach von den „unglücklichsten Menschen meiner Provinz“.

Arondissement Sieg und Dillenburg 1812
Arondissement Sieg und Dillenburg 1812 © Stadtarchiv Siegen

Isaac Rosenberg erhielt 1845 als erster Jude in Siegen die vollen staatsbürgerlichen Rechte. Gegen den Besitzer eines „Ellenwaren- und Putzladens“ kämpfte die Konkurrenz mit allen Mitteln: In seinem Haus wurden Fensterscheiben eingeworfen, ihm wurde ein blinder Feueralarm zugeschrieben und Falschgeld untergeschoben.

Jacob Hambloch leitete nicht nur den Siegensch-Müsener Rohstahlverein, den Hammer- und Hüttengewerken 1831 als gemeinschaftliche Verkaufsorganisation mit einem Rohstahllager in Krombach gründeten, sondern auch die Sparkasse in Krombach – 1834 als erste Sparkasse im Kreisgebiet gegründet.

Leistungsfähigste Gerberei in Krombach – aber Frau vom Chef mag das Siegerland nicht

Krombach wurde das Zentrum des Gerbereigeschäftes und des Häute-Großhandels. Gustav Mallinckrodt baute in Krombach die leistungsfähigste Gerberei des Siegerlandes auf. Weil die Ehefrau des gebürtigen Dortmunders im Siegerland nicht heimisch wurde, übersiedelte die Familie 1836 nach Köln.

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Luxemburg war das Tauschobjekt, mit dem Preußen 1815 beim Wiener Kongress das Königreich der Niederlande abgefunden hat – im Gegenzug wurde Nassau-Diez und damit auch das Fürstentum Siegen preußisch. Gut ein Jahr später kamen auch Burbach und Neunkirchen dazu, die Preußen beim Herzog von Nassau samt weiteren Ortschaften der Ämter Siegen und Netphen gegen das Amt Friedewald und Teile des Amtes Kirchen eintauschte.

Meckeser wurden fahrende Geschirrhändler und Lumpensammler genannt, die der Landrat nicht mehr im Kreis Siegen haben wollte. Sie selbst bezeichneten sich als „Jenische“, die der preußische Staat – ebenso wie die Sinti – zur Sesshaftigkeit zwingen wollte.

Als Netphen die größte Kommune im Kreis war – mehr Einwohner als Siegen

Netphen war 1846 mit 8304 Einwohnern die größte Kommune im Kreis Siegen, gefolgt von Burbach-Neunkirchen (7704) und Siegen (6233). 1839 waren im Kreis Siegen 33.301 Einwohner evangelisch, 7015 katholisch und 19 jüdisch. Es gab 931 Fabriken und Mühlen und 49 Kirchen und Bethäuser.

Oechelhäuser ist der Name einer Siegener Unternehmerfamilie. Adolf und Heinrich führten eine Maschinenfabrik. Ihr Vater Johannes Oechelhäuser, königlicher Kommerzienrat, hatte eine Leimsiederei und eine Papiermühle. Als Siegener Magistrat redete er bei der Planung der 1840 eröffneten Sieg-Aktien-Straße von Siegen nach Eiserfeld und Niederschelden mit und setzte die Trassenführung durch die Hammerhütte (statt über den Häusling) durch. Hierfür mussten Unternehmer selbst Kapital für eine Aktiengesellschaft zeichnen.

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Preußen erbte in Siegen gleich zwei Schlösser: das Obere und das Untere Schloss. Aber das war längst nicht alles. In königlichen Besitz Wiesen, Wälder, Gärten, Mühlen, Hofgüter, die Stahlhütte in (Kredenbach-) Lohe und sogar ein Teil des Müsener Stahlbergs.

Warum die Kronprinzeneiche Kronprinzeneiche heißt: Weil der Kronprinz da war

Rechnungsrat („Rendant“) Johann Heinrich Moritz Achenbach wurde um 1840 Wortführer der konservativen Siegener, als durch die neue Städteordnung erstmals eine Form von Opposition in der Stadtverordnetenversammlung möglich wurde und sich dort eine bildungsbürgerlich-liberale Mehrheit formierte. Man stritt über nahezu alles – heftig auch über den Verlauf der heutigen Sandstraße, den die Gewerbetreibenden aus Sorge um ihre Geschäfte lieber auf einer „Siegberglinie“ gesehen hätten. Der Ärger schlug auf Achenbachs Gesundheit durch; er ließ sich pensionieren.

Sklave wurde Jacob Cannaba, als Spanien die Batan-Inseln der Ibatan eroberte. Der Häuptlingssohn von den Philippinen unterhielt das Siegener Publikum beim Gastspiel eines „Buschmann-Theaters. Bis sich der „Wilde“ mit dem Ausruf „Jesus Maria“ als getaufter Christ zu erkennen gab. Unter anderem die Vereinigung edler Frauen und Jungfrauen um die verwitwete Charlotte Dresler setzten seine Freilassung und Heimreise durch.

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Thronfolger Friedrich Wilhelm besuchte 1833 seine westlichen Provinzen. An der neuen Staatsstraße zwischen Lützel und Hilchenbach pflanzte er eine Eiche, und für seinen Besuch der Grube Stahlberg, die schon 1819 zu Besuch der Prinzen Wilhelm einen eigenen Eingang an der Hauptstraße bekommen hatte, wurden die Gewölbe taghell ausgeleuchtet. Der nach Ernsdorf führende Entwässerungsstollen heißt seitdem „Kronprinz-Friedrich-Wilhelm-Erbstolln“, und an der Kronprinzeneiche versuchte ein eigens gegründeter Verein seitdem, den Jahrestag mit einem Schützenfest zu begehen.

Die Siegerländer konnten alles – aber es reichte trotzdem nicht zum Leben

Ungewöhnliche Mannigfaltigkeit bei den Erwerbszweigen stellt Karl Friedrich Schenk in seiner Statistik von 1823 fest. Der Siegerländer sei Landwirt, Köhler, Berg- und Hüttenmann, Hammerschmied und Handwerker zugleich, immer das, womit er gerade Einkommen erzielen kann. In der „geringen Klasse“ ist aber selbst das nicht genug. „Der Taglöhner und besonders der Bergmann hat daher schon in guten Jahren seine Last, von seinem Taglohn sich und seine Familie zu ernähren. (…) Die Kinder, selbst von 8-10 Jahren, müssen jedoch theils in den Fabriken, theils auf der Chaussee, durch Stein-Klopfen sich ihr Brot erwerben.“

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Vier Stände entsenden Vertreter in den 1826 gebildeten preußischen Provinzial-Landtag: der hohe Adel (das sind die beiden Wittgensteiner Fürsten), die Ritter (Freiherr von Fürstenberg zu Herdringen als Eigentümer des Gutes Burgholdinghausen bei Littfeld, die Städte (dritter Stand) und die Landgemeinden (vierter Stand). Die Stadt Siegen hatte einen eigenen Abgeordneten. Berleburg, Freudenberg, Hilchenbach und Laasphe teilten sich einen. Die anderen Landgemeinden der Kreise Siegen, Wittgenstein und Olpe entsandten gemeinsam einen Abgeordneten. Wählen durfte, wer ausreichend Grundbesitz hatte. In Siegen gab es 23, in Hilchenbach zehn, in Freudenberg fünf Wahlberechtigte, in den Siegener Landgemeinden insgesamt 35.

Wittgensteiner waren gute Soldaten – die Siegerländer nicht. Aber „nicht aus Feigheit“

Wittgenstein stelle „gerne und gute Soldaten“, berichtete der Landrat 1831, „die schönsten und kräftigsten Leute“. Siegerländer seien dem Soldatenstande abgeneigt, „nicht aus Feigheit, sondern aus Liebe zur Häuslichkeit und zum heimatlichen Heerde“.

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„Zu den drei eisernen Bergen“ hieß die Freimaurerloge, in der sich höhere preußische Beamte in Siegen zusammenschlossen. „Sie waren anfangs kaum in das gesellschaftliche Leben der Stadt integriert und blieben weitestgehend unter sich“, schreibt Dieter Pfau. 1828 öffnet die Loge ihren Raum im Unteren Schloss auch für „Nichtmitglieder aus der gebildeten Gesellschaft“.