Hohenroth. Der erste Teilband der „Zeitspuren“ im 19. Jahrhundert wird ein Standardwerk zur Siegerländer und Wittgensteiner Geschichte, sagt der Landrat.

Ludwig Müller hat eine Fabrik für Strickstrümpfe in Sassenhausen. Sie sind arm, die Wittgensteiner. Damit der Oberpräsident von Fincke das auch versteht, liegt dem Brief des Fabrikanten eine Warensendung mit Strümpfen bei. Samt Rechnung über vier Taler und 19 Silbergroschen. Zu verschenken haben sie schließlich nichts. Elisabeth Strautz, langjährige Mitarbeiterin im Kreisarchiv, erzählt diese Geschichte beispielhaft – sie hätte viele, die ebenso originell sind, die ihr bei der Erforschung des 19. Jahrhunderts von Wittgenstein in die Finger gekommen sind. Inzwischen in der Alterzeilzeit, hat sie zusammen mit dem Historiker Dieter Pfau den neuen Siegerland-Wittgensteiner Zeitspuren-Band geschrieben.

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Wie schwer Geschichte wiegt

Um etwas seriöser noch einmal zu beginnen: Die neuen Zeitspuren sind da. Dieter Pfau hat einen Riesensprung gemacht, zeitlich gesehen, seit er 2009 die Reihe der Geschichtsbücher für Siegerland und Wittgenstein mit dem Band über das Früh- und Hochmittelalter eröffnet hat. Für das halbe Jahrtausend von 750 bis 1250 hat er 288 Seiten benötigt, die 1640 Gramm auf die Waage bringen – der Historiker hat selbst gewogen. 14 Jahre später wird als zweiter Band das preußische 19. Jahrhundert druckreif, genauer: der erste von zwei Teilbänden, mit 1830 Gramm und 320 Seiten schon äußerlich gewichtiger. Und innen ganz anders: Da entfaltet sich der ganze Reichtum an Dokumenten, Karten und Bildern, die Dieter Pfau und seine Mitautorin Elisabeth Strautz in mehrjähriger Forschung im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, im Landesarchiv NRW in Münster, im Westfälischen Wirtschaftsarchiv in Dortmund und in den kommunalen und fürstlichen Archiven in der Region zutage gefördert haben. Ein Reichtum nicht nur zwischen Buchdeckeln, sondern ergänzend auch online, wo die Originale zum Heranzoomen hinterlegt sind.

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Im Waldland Hohenroth, neben dem alten Forsthaus, haben sie sich zur Buchpräsentation versammelt: Dieter Pfau als Autor und Herausgeber, Autorin Elisabeth Strautz, Landrat Andreas Müller, der den Kreis Siegen-Wittgenstein und den Heimatbund als Mitherausgeber vertritt, der Unternehmer Klaus Vetter, der dafür gesorgt hat, dass um die 30 Sponsoren einen sechsstelligen Betrag zugeschossen haben, damit ein wunderschönes Geschichts-Lesebuch auch tatsächlich gedruckt werden kann, und eine ganze Reihe weiterer Beteiligter.

Wie man die Zeitspuren liest

Wer so ein Buch aufschlägt, blättert darin, wie er in einer Wundertüte wühlen würde. Oder er liest sich gleich am Anfang fest. Wie der Landrat. Tatsächlich hätte ja auch alles anders kommen können nach dem Wiener Kongress. Wittgenstein hätte wie Siegen hessisch bleiben können, der Kreis Siegen eigentlich auch beim Regierungsbezirk Koblenz… Andreas Müller denkt laut nach: 200 Jahre haben die Kreise Siegen und Wittgenstein durchlebt, zwei Weltkriege, die deutsche Teilung und Wiedervereinigung, „aber auf die Verwaltungsstrukturen hatte das keine Auswirkungen“. Bis auf das Gesetz, das 1975 aus den zwei Kreisen den einen Kreis Siegen-Wittgenstein machte. Der dann übrigens 2017 Jubiläum feierte. Was ein Grund mehr war, in das neue Zeitspuren-Vorhaben auch finanziell einzusteigen. „Das Standardwerk für die nächsten Jahrzehnte.“

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Paul Breuer, der ehemalige Landrat und Ehrenvorsitzende des Heimatbundes, steht für das Wundertüten-Prinzip. Er entdeckt, dass Oberpräsident von Vincke bei Jung-Stilling studiert hat („ein langer Arm“). Und dass der Weg aus dem Siegerland nach Wittgenstein immer noch beschwerlich ist, auch wenn er nicht mehr durch Obernau, Nauholz und Hohenroth über die Kohlenstraße führt. „Nicht ohne Lebensgefahr“, berichtete der Posthalter 1818 dem Landrat. „So schnell ändern sich die Dinge nicht.“ Klaus Gräbener, der IHK-Hauptgeschäftsführer, stößt auf die Einwohnerzahlen von 1818: Da hatte Netphen mehr doppelt so viele Einwohner wie die Stadt Siegen. Nein, versichert Dieter Pfau, „das stand nie zur Debatte.“ Dass Netphen Hauptort des Kreises würde. Man stelle sich vor: „Netphen-Wittgenstein.“

Rund ums Buch

Neben den Hauptkapiteln zur „Integration in den preußischen Staat 1815-1835“ zum „Aufbruch im Bürgertum“ 1835-1848“ enthält der Zeitspuren-Teilband 15 Biografien vom Landmesser Vorländer bis zum Häuptlingssohn Cannaba und 18 Sonderthemen von den Volks- und Schützenfesten auf der Kronprinzeneiche bis zum „Situationsplan der Sieg-Aktien-Straße“ vom Löhrtor bis zur Hammerhütte, außerdem mehr als 150 auch online verfügbare Karten und Illustrationen.

Den neuen Zeitspuren-Teilband gibt es für 45 Euro im Buchhandel oder im Paket mit Band 1 für 75 Euro.

Vorträge zu den neuen Zeitspuren gibt es am 17. April im Rathaus Netphen, am 27. April in der Stadtbibliothek Kreuztal und

am 10. Mai in der Hilchenbacher Wilhelmsburg.

Man kann auch etwas zu dem Buch sagen, bevor man es liest. Günter Zimmermann zum Beispiel, der stellvertretende Vorstandschef der Sparkasse Siegen. Neben Print und Online, sagt er, „ist es gut, wenn man einen zentralen Ort hat, an dem man Geschichte sichtbar macht.“ Es sprach der Vorsitzende des Fördervereins des Siegerlandmuseums, der gerade die Erweiterung um den Burgstraßen-Bunker stemmt. Klaus Vetter, der Motor der Finanzierung des Buch-Projekts, nennt es „sehr schade“, dass das Siegerland eine Chance schon verpasst hat: „Es ärgert mich immer noch, dass im Ruhrgebiet aus jedem Bergwerk ein Museum gemacht wird.“ Und hier aus keinem.

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Es gäbe ja noch viel zu sagen. Diethard Altrogge aus dem Waldland-Vorstand weist darauf hin, dass die Wittgensteiner mit ihrem in Holzkohle verwandelten Wald Siegerländer Industrieöfen gefüttert haben. Was nicht gerade für gleichberechtigtes Nebeneinander spricht. Paul Breuer weiß, dass schon die beiden Wittgensteiner Fürstentümer einander nicht grün waren. „Deswegen konnte das mit dem Schnellbus von Bad Laasphe nach Bad Berleburg auch nichts werden.“

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Wie es weitergeht

Der erste Teilband der 19.Jahrhundert-Zeitspuren ist vor allem eine Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte, an deren Ende erste Schritte in die Industrialisierung stehen: Die Familie Dresler verdient mit ihrer Spinnmaschine in Siegen das Geld für ihre ersten Fabriken – damals, als unterhalb der Stadtmauer nicht die Sandstraße entlang führte, sondern der Mühlenweiher plätscherte. Voller Absicht ist der zweite Abschnitt des Bandes nur ein Drittel so groß wie der erste: Der „Aufbruch ins Bürgertum“, den Dieter Pfau 1835, als noch vor der 18498er Revolution, einsetzen sieht, wird im zweiten Teilband fortgesetzt, der bis 1914 oder 1918 führen wird. Darin werden auch die Kirchen, insbesondere die „Dissidenten“ genannten Protestanten in der Vereinshaus-Bewegung, eine größere Rolle spielen. „Die Recherche ist im Kasten“, sagt Dieter Pfau, „jetzt muss nur noch geschrieben werden.“ Ende 2024 soll es so weit sein.

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Und dann? Könnten die nächsten Zeitspuren die Lücke zwischen 1250 und 1815 füllen. Oder mit dem 20. Jahrhundert weitermachen. Dieter Pfau erinnert sich daran, wie er vor über 14 Jahren glaubte, die ganze Siegerländer und Wittgensteiner Geschichte in drei Bänden fassen zu können. „Das war ein bisschen blauäugig.“

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