Netphen. Kämmerer Hans-Georg Rosemann geht in den Ruhestand – ein Blick auf das Leben mit Zahlen und auf das richtige Leben.

Als Hans-Georg Rosemann 1977 bei der Gemeinde Netphen anfing, ging gerade alles bergauf. Im Niemandsland zwischen Nieder- und Obernetphen entstand ein neues Einkaufszentrum mit dem Kontra-Markt am Hufeisenplatz. Die Rettungswache stand da, wo gut 20 Jahre später der heutige Petz-Rewe-Markt errichtet wurde. Und an der Ecke Talstraße/Amtsstraße wurde ein neues Rathaus mit Ratssaal gebaut – die Lücke, in der heute das allerneueste Rathaus mit der Sparkasse unten und dem Ratssaal im vierten Stock steht, füllte damals noch ein Wohnhaus. Auch der Freizeitpark war noch neu. Dass samstags kein Bus von Netphen nach Hause nach Sohlbach fuhr, regte niemanden auf. Der Realschüler kehrte halt auf dem Heimweg mit seinen Kumpels in der Kneipe des Eisstadions ein.

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Mit Zahlen war er immer gut

Heute hat Hans-Georg Rosemann sein Büro direkt über der Sparkasse. Passender ist weit und breit kein Kämmerer untergebracht. Dass er es in bis in die Spitze der Verwaltung seiner Heimatgemeinde bringen würde, hat der Verwaltungslehrling von damals nicht geahnt, als er in der Gemeindekasse eingesetzt wurde, unten im alten Amtshaus, dem heutigen Bürgerbüro. „Der Umgang mit Zahlen hat mir immer gut gelegen“, sagt Hans-Georg Rosemann. Schon in der Schule. Zumindest „als es noch ums Rechnen ging“, schränkt er ein. Mit Wahrscheinlichkeitsrechnung – wohl ein Gift für jeden Kämmerer – haben sie ihn in der Realschule nicht behelligt. Wohl aber mit der Mengenlehre: Das ist das, was immer im Schulfernsehen geguckt werden musste, wo bunte Dreiecke und Quadrate in Schnitt- und Vereinigungsmengen gelegt wurden, bis sie sang- und klanglos vom Lehrplan verschwanden. Wohl auch deshalb kann Hans-Georg Rosemann, der sich für die Gemeinde und gegen Finanzamt und Waggon Union entschied, heute aus dem Stand vorrechnen, wie lange die Stadt (seit 2000 eben nicht mehr „nur“ Gemeinde) welche Raten für welche Investition abstottern muss und wie viel höhere Grundsteuer das die Bürger kostet.

Das Leben mit Zahlen

Die Kurzfassung seiner beruflichen Laufbahn braucht nur ein Wort: Finanzen. Die Langfassung enthält all die Organisationseinheiten, die im Rathaus mit Geld zu tun haben. Kasse, Steueramt, Erschließungsbeiträge, Kämmerei... 2015 schließlich wurde Hans-Georg Rosemann Kämmerer, kurz darauf auch allgemeiner Vertreter des Bürgermeisters und Leiter des Dezernats, das für Finanzen, Liegenschaften und die beiden Betriebe der Stadt, Wasserwerk und Freizeitpark Obernautal GmbH, zuständig ist.

Es gibt wohl wenige Bereiche in der kommunalen Verwaltung, die vom Welt- und Stadtgeschehen weniger erschüttert werden können. Immer im Sommer melden die verschiedenen Fachbereiche, wofür sie im folgenden Jahr Geld ausgeben wollen. Immer gegen Ende des Jahres weiß der Kämmerer, wie viel Steuern wohl eingenommen werden, wie viel der Kreis der Stadt an Geld abnimmt und mit welcher Zuweisung vom Land zu rechnen ist. Immer kurz vor Weihnachten legt er dann dem Rat den Entwurf für den Haushaltsplan vor – schon deutlich zusammengestrichen gegenüber den Wünschen der Fachbereiche, aber noch nicht zerrupft durch den Rat, der den Etat im Januar verabschiedet. Irgendwann im Frühsommer, wenn der Haushalt genehmigt und die Aufträge ausgeschrieben und vergeben sind, kann das Geld dann auch ausgeben werden. Der Kämmerer und sein Team haben derweil den Jahresabschluss glatt gerechnet – und dann geht alles wieder von vorn los.

Wenn im Wahljahr Steuern erhöht werden sollen

Wenn alles glatt läuft. Hans-Georg Rosemann hat das Jahr 2020 in Erinnerung. „Das schlimmste überhaupt.“ Auf Biegen und Brechen durfte kein Defizit mehr unter dem Strich stehen – die Stadt selbst hatte sich verpflichtet, das Haushaltssicherungskonzept bis dahin abzuschließen. 2020 war aber auch das Jahr der Kommunal- und Bürgermeisterwahlen. Wahlen sind aber nun einmal der natürliche Feind von Steuer- und Gebührenerhöhungen. „Da haben wir den Haushalt erst im Mai beschlossen.“ Was extrem dazu beitrug, dass das in jenem Jahr beabsichtigte Arbeitsprogramm nicht mehr abgearbeitet werden konnte. Allein bei den Investitionen beträgt der Bestand an „Resten“ mittlerweile 27 Millionen Euro, das Dreifache des aktuellen Investitionsbudgets. Die Verwaltung wäre also, selbst wenn der Rat gar nichts mehr beschließt, noch drei Jahre voll beschäftigt.

2020, erinnert sich der Kämmerer, „haben wir uns noch um 100 oder 200 Euro gestritten“. Davon ist heute keine Rede mehr. Corona und Ukraine-Krieg machen alles möglich. Was nicht da ist, an Geld, wird einfach „isoliert“: also trotzdem ausgegeben, aber vorerst einmal nicht in den Haushalt hineingeschrieben. „Das Gefühl für Geld ist anders geworden“, sagt Hans-Georg Rosemann vorsichtig. Tatsächlich hat der seit 2020 amtierende Rat keine Erinnerung mehr an Haushaltssicherungskonzepte und Fremdbestimmung durch die Kommunalaufsicht. „Dadurch kommen Gedanken auf, was wir uns alles leisten können.“

Warum der Rathausplatz doch kein Geld wert ist

Ein übriges hat aus Rosemanns Sicht das „Neue Kommunale Finanzmanagement“ (kurz: NKF) beigetragen. Transparenz und Generationengerechtigkeit sollte die kaufmännische Haushaltsplanung seit 2008 bringen. „Das bezweifle ich mal.“ Das Wissen, dass zum Beispiel der Rathausplatz anderthalb Millionen Euro wert ist, von denen Jahr für Jahr ein Teilbetrag abgeschrieben und als Ausgabe verbucht werden muss, sei tatsächlich unnütz: „Vollkommener Blödsinn – ich kann den ja nicht verkaufen.“ Dem Rat werde der neue Auftrag, so etwas wie ein „Aufsichtsrat“ zu sein und die Details der Verwaltung zu überlassen, nur schwerer gemacht: „Der Blick übers Große und Ganze geht verloren.“ Um so erbitterter wird wieder um Kleinigkeiten gerungen. Dabei, so Hans-Georg Rosemann, sei es „,manchmal schwieriger, für eine Sanierung Geld auszugeben als für einen Neubau.“ So ist das eben mit NKF.

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Das richtige Leben

Nicht, dass Hans-Georg Rosemann nicht auch die andere Seite kennen gelernt hätte. Damals, als nur ein paar Ämter an die Kommunale Datenzentrale in Siegen angeschlossen waren, die zu festgesetzten Uhrzeiten per Modem eine Leitung aufbauten und für die übertragenen Daten ein paar Tage später maschinenlesbare Lochkarten zurückbekamen. Damals, als die Gemeinde den jungen Rosemann vertretungsweise zum Vollstreckungsbeamten machte, der säumige Steuer- und Gebührenzahler aufzusuchen und mit ihnen zumindest Ratenzahlungen zu vereinbaren hatte. Nur am Anfang mit Erfolg: „Beim ersten Mal machten die Leute sogar die Tür auf, weil sie einen noch nicht kannten.“ Das legte sich. Und unangenehm war es eigentlich auch, wenn man sich aus anderen Zusammenhängen kannte.

Ob er sich als Kämmerer bei den anderen Fachbereichen unbeliebt macht? Eher nicht, glaubt Hans-Georg Rosemann. „Manche sind auch froh, wenn jemand anders Nein sagt.“ Ob er sich überreden lässt? Guten Begründungen sei er zugänglich, sagt er – und widerspricht nicht, wenn er auf das Geschick seines jeweiligen Gegenübers angesprochen wird. „Das ist so wie im richtigen Leben – man ist ja nicht in jedem Thema voll drin.“

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Von der Route 66 zum eigenen Wohnmobil

Das richtige Leben bekommt bei Hans-Georg Rosemann, der im November 63 Jahre alt wird, bald sehr viel Platz. Seine passive Altersteilzeit beginnt, am 18. August ist sein letzter Arbeitstag. Seinem Nachfolger Christian Walde hinterlässt er eine gerade wieder mit zwei Millionen Euro neu aufgefüllte Ausgleichsrücklage und Dienstreisen bis nach Kanada, falls er sich mit den Erbengemeinschaften auseinandersetzen muss, die den Burggraben, Netphens größtes Neubaugebiet, blockieren können. Im September ist Hans-Georg Rosemann mit seiner Frau in New York – den Staaten gilt sein Interesse, seit er einmal die USA auf der Route 66 durchquert hat. Die Zukunft wird dann aber eher dem Kontinent gehören. Seit drei Jahren steht zu Hause in Eckmannshausen ein abfahrbereites Wohnmobil.

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