Kreuztal. „Ich kann mir unheimlich gut Gesichter merken“, sagt der Noch-Direktor: 17 Jahre leitet Christian Scheerer die Clara-Schumann-Gesamtschule.
Der Umzugskarton steht noch zusammengefaltet unter dem Fenster. „Die Ferien kommen zu früh“, stellt Christian Scherer fest. Andererseits: Richtig Pensionär ist der Leiter der Clara-Schumann-Gesamtschule erst nach dem 31. Juli, wenn für die anderen das neue Schuljahr fast schon wieder anfängt. Was in die Kiste hineinkommt? Wohl auch ein paar Erinnerungen aus seinen 27 Jahren an der „Clara“, die in dem Schrank mit der Glastür Platz gefunden haben. Gastgeschenke, Glückwünsche – und ein Zauberwürfel, wie er in den 1970er Jahren angesagt war: jede Seite aus verschiedenfarbigen, gegeneinander drehbaren kleinen Würfeln zusammengesetzt, die darauf warteten, einfarbige Flächen zu bilden. Christian Scheerers Zauberwürfel hat auf allen Seiten nur eine Farbe: ein verblassendes Rosa. „Der einzige, den ich kann.“
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Als er 1996 nach Kreuztal kam, wurde der Erweiterungsbau der Clara-Schumann-Gesamtschule gerade fertig, die 1992 in den Räumen der gerade geschlossenen Hauptschule gestartet war – vorher hatte Ferndorf zugemacht, danach Buschhütten, jetzt gerade Eichen. Jetzt, wo die Pensionierung bevorsteht, schickt sich die Stadt wieder an zu bauen, vielleicht nun doch nicht auf dem Dach, sondern an der Stelle der abgebrannten Stadthalle. „Wir brauchen einfach mehr Räume.“
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Alternativen Tür an Tür
Alles, was die 31.000-Einwohner-Stadt an weiterführenden Schulen hat, konzentriert sich nun im Schulzentrum für rund 2000 Jugendliche mit dem neuen Bildungs- und Sportcampus, der Arena auf der Wiese mit Sitzstufen, dem Dirtbikepark, der Calisthenics-Anlage und dem Soccerfeld: die fünfzügige Gesamtschule, das dreizügige Gymnasium, die zweizügige Realschule. Das funktioniert? Sicher, sagt Christian Scheerer und beschreibt ein konstruktives Miteinander: Die Schulleitungen tauschen sich aus, Gesamtschüler und Gymnasiasten haben ihre Abi-Klausuren sogar zusammen geschrieben, als die Stadthalle noch stand. Andererseits: „Unsere Schülerinnen und Schüler haben ein ganz starkes Zugehörigkeitsgefühl zu ihren Schulen.“ Den gemeinsamen Schulhof von Gesamtschule und Gymnasium teilt eine unsichtbare Grenze: „Jeder weiß, wo die ist.“ Man trifft sich da, geht aber nicht auf die andere Seite. Es sei denn, es geht nicht anders. Für Aufsehen soll gesorgt haben, dass ein Gesamtschüler verbotenerweise den Schulhof der Realschule betreten und dort eine Schülerin geküsst hat, erzählt Christian Scheerer. Ein gemeinsames Fest der Lehrkräfte hat es übrigens noch nie gegeben.
Die Liebe überwindet die Grenze von Schulsystemen. Natürlich kann auch der Leitende Gesamtschuldirektor, der Sprecher der Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen im Regierungsbezirk war, Schulpolitik: „Ich fände es natürlich schön, wenn alle Schulen Gesamtschulen wären.“ Und: „Wir ärgern uns, dass wir die Probleme des dreigliedrigen Schulsystems ausbaden müssen.“ Sprich: die Kinder wieder aufrichten zu müssen, die im Gymnasium oder der Realschule überfordert waren und nach der Erprobungsstufe „abgeschult“ werden. Es sei schon „tollkühn“, im vierten Grundschuljahr feststellen zu wollen, welcher Schulabschluss für Kind der beste ist.
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Der Theorie steht die Praxis zur Seite. „Wir haben hier nebeneinander drei gut funktionierende Schulen.“ Gymnasium und Gesamtschule Tür an Tür gibt es nirgendwo sonst in NRW. Was zur Folge hat, dass die Gesamtschulklassen eben nicht gleichgewichtig mit Kindern aller verschiedenen Grundschulempfehlungen gefüllt werden, sondern die mit dem Gymnasialvermerk gleich nebenan angemeldet werden. Trotzdem hat die Clara-Schumann-Gesamtschule immer eigene Abiturjahrgänge mit 40 bis 60 Schülerinnen und Schülern – die von der Grundschule zum überwiegenden Teil für einen Hauptschulabschluss empfohlen worden waren. Oft sind sie die Ersten in der Familie, die die Hochschulreife erwerben. „Das ist ihnen bewusst, und darauf sind sie stolz.“ Oft kann ihnen zu Hause niemand helfen. „Gerade in der 11“, sagt Christian Scheerer, „ist viel moralische Unterstützung notwendig.“ Und die bekommen die Jugendlichen an der Clara auch, für die der Wechsel in die gymnasiale Oberstufe eine Herausforderung ist als für die, die seit der Klasse 5 das Gymnasium besuchen. Denn das Zentralabitur ist am Ende für alle gleich.
In die Schule und wieder raus
Christian Scheerer ist in Iserlohn ein Freund der Gesamtschule geworden. Dort hatte der Eiserfelder, der längst in Kreuztal wohnt, von 1991 bis 1996 seine erste Lehrerstelle, nachdem er schon 1986 bis 1988 sein Referendariat am Gymnasium in Wiehl absolviert hatte. Damals gab es kaum Stellen für junge Lehrer, und beinahe hätte es auch so ausgesehen, als wäre aus den Abiturienten des ersten Jahrgangs des neuen Gymnasiums Auf der Morgenröthe etwas ganz anderes geworden: An der Uni hatte er einen Lehrauftrag, bei einem Unternehmen in Haiger leitete er die Aus- und Weiterbildungsabteilung. In Kreuztal wurde er 2002 stellvertretender Schulleiter, 2005 Direktor.
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17 Jahre sind das im Direktorzimmer: Hier fielen die Entscheidungen, wer überhaupt aufgenommen wird. „Wir haben jahrelang immer Schüler ablehnen müssen“ – als die Schule noch vierzügig war. Ablehnen geht jetzt nicht mehr: Es gibt keine Alternative mehr in Kreuztal. Entsprechend voll werden die Klassen. Die werden zwar im Anmeldeverfahren auf 27 Schülerinnen und Schüler begrenzt, füllen sich im Laufe der Jahre dann doch weiter. Zwei Drittel haben einen Migrationshintergrund. Manche, deren Familien gerade erst zugewandert sind, sprechen überhaupt kein Deutsch. „Da müssen wir mit Übersetzern arbeiten.“ In die Willkommensklasse werden geflüchtete Kinder und Jugendliche für die ersten Wochen aufgenommen, während denen ein für sie passender Schulplatz gesucht wird. Zeitweise, mit bis zu 60 Kindern, waren das eigentlich zwei Klassen. „Im Moment sind es weniger als 20“, sagt Christian Scheerer. „Ich sehe immer mit großen Sorgen die Katastrophenmeldungen in den Nachrichten. Dann kann man sich ausrechnen, wann die Menschen in Kreuztal ankommen.“ Gerade ist der Staudamm in der Ukraine zerstört worden.
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Mehr Förderung brauchen auch die Kinder mit Handicaps. „Es werden mehr“, stellt Christian Scheerer fest, die mit Sprachstörungen, Lernbehinderung oder emotional-sozialen Beeinträchtigungen zurechtkommen müssen. In Kreuztal so viele, dass auch das Gymnasium wieder in die Inklusion eingestiegen ist. Trotzdem reichte die Kraft, um jedes Jahr eine 5 zur Vokalklasse und eine zur MINT-Klasse zu spezialisieren, die zugleich auch erste Tablet-Klasse ist.
An der Wand hängen zwei Bilderrahmen. Foto-Collagen mit Szenen aus dem Schuljahr. „Für mich hat jedes Bild eine Geschichte.“ Rund 920 Schülerinnen und Schüler, rund 100 Lehrkräfte und weitere Mitarbeitende im Kollegium. Jedes Jahr sind zwei Rahmen in den Keller gewandert. Ob er noch alle abgebildeten Schülerinnen und Schüler wiedererkennt. „Ich kann mir unheimlich gut Gesichter merken“, sagt Christian Scheerer, „Namen nicht.“ Muss ja auch nicht, auch dafür gibt es Lösungen. Am 20. Juni wird Christian Scheerer verabschiedet. Der 63-Jährige will Zeit für die bald fünf Enkel, fürs Fotografieren, fürs Rennradfahren und fürs Reisen haben. Im August wird er mit seiner Frau im Yellowstone-Park wandern, während für Marco Schneider, den bisherigen Oberstufenleiter, das neue Schuljahr in der neuen Funktion als Direktor beginnt. Ob Christian Scheerer ihm den Zauberwürfel da lässt?