Netphen. Dramatische Lage in Gemeinschafts- und Notunterkünften: Georg-Heimann-Halle wohl Schrecken für viele Geflüchtete. Einige wollen weg aus Netphen.
Die Georg-Heimann-Halle wird weiterhin als Notunterkunft für Geflüchtete benötigt; sie ist derzeit im „Stand-By-Betrieb“ nicht belegt. „Die bisherigen Zuweisungszahlen in diesem Jahr lassen auf eine weiterhin hohe Zuweisungsdynamik schließen“, heißt es aber in einer Vorlage für den Jugend- und Sozialausschuss, der sich am Mittwoch, 7. Juni, mit dem Thema befasst. Die Situation der Unterbringung ist stark konflikthaft.
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Die Lage in den Gemeinschaftsunterkünften ist mitunter dramatisch. Das geht aus dem Integrationsbericht hervor. Die seit November vorgenommene Unterbringung sei von den Betroffenen massiv abgelehnt worden. „Im Fall einer Familie nahm die Beschwerdeführung derart extreme Ausmaße an, dass die Beratung eingestellt wurde und sich die Berichterstatterin von der Familie zurückziehen musste“, schreibt Anna Nell. Ihr sei die Unterbringung und dadurch hervorgerufenes Leid persönlich angelastet worden. „Eine Familie weigerte sich am Zuweisungstag in der Halle zu verbleiben und reiste wieder ab.“
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Gelöst werden konnten Probleme, wenn wieder Räume in der ehemaligen Tagesklinik in der Talstraße frei wurden. Immer mehr Geflüchtete wollen raus aus den Gemeinschaftsunterkünften. „Substanzmissbrauch des Zimmernachbarn, differierende Vorstellungen von Mein und Dein, Tag und Nacht, Ordnungs- und/oder Sauberkeitsempfinden, Empfang von Besuchern“ zählt die Sozialarbeiterin als Gründe auf, „und vor allem der Umstand, dass die Häuser voll belegt waren“. Die Probleme seien „vollumfänglich nachvollziehbar“.
Die Asylsuchenden
Eine alleinerziehende Mutter aus Serbien mit drei Kindern sei untergetaucht. Zwei Personen tauchten wieder auf. „Personen, die untertauchen und in anderen Städten aufgegriffen werden oder selber wieder bei der Ausländerbehörde des Kreises oder im Rathaus vorstellig werden, müssen, egal wieviel Zeit vergangen ist, wieder in Netphen angemeldet und städtischerseits untergebracht werden“, erklärt der Integrationsbericht. Sie hielten sich dann nur sporadisch in den Unterkünften auf, blockierten dort aber Plätze.
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Besonders herausfordernd sei die Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Einzelpersonen bewohnten jahrelang Einzelzimmer. „Erkrankungsbedingt kommt es zu Konflikten mit anderen Bewohnenden.“ Die Stadt versuchte, Umzüge zu ermöglichen – aber „die Möglichkeit der Zuführung auf den privaten Wohnungsmarkt ist ausgeschlossen“.
Die dreijährigen Wohnsitzauflagen seien „seit Jahren bestimmende Lebenswirklichkeit vieler, vieler Personen in Netphen“. Dass diese für ukrainische Staatsangehörige nicht gilt, sei den Betroffenen „nicht vermittelbar“. Eine Streichung der Wohnsitzauflage wird möglich, wenn die Person einen unbefristeten Arbeitsvertrag abschließt. „Immer wieder gehen Personen zutiefst prekäre Beschäftigungsverhältnisse ein, um in den Wunschort ziehen zu können.“
Nach Netphen kamen im vorigen Jahr 36 allein reisende Männer, die in Dreibettzimmern untergebracht wurden. Sieben ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan wurden aufgenommen. Auch die Türkei habe eine sehr große Rolle, heißt es in dem Bericht. Es erreichten Minderjährige Netphen, die zuvor mehrere Jahre in der Türkei lebten; sie waren teils unbegleitet.
Erwähnt werden in dem Integrationsbericht auch Probleme bei der Aufnahme von Kindern in Kitas und Schulen. „Kinder, die fluchtbedingt zuvor keinen Kindergarten oder nur sehr kurz besucht haben, haben mitunter Schwierigkeiten beim Start.“ Erwähnt wird die Lage alleinerziehender Frauen, die zusätzlich zu Flucht und fehlenden Deutschkenntnissen durch Gewalterfahrungen in Ehe oder Partnerschaft belastet seien. Deren Unterstützung brauche vor allem auch Zeit, schreibt Anna Nell, die ihr Fazit direkt an den Beginn ihres Berichtes stellt: „Vielen, zu vielen Anliegen und Aufträgen konnte nicht adäquat begegnet werden.“
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Die Ukraine-Kriegsflüchtlinge
Sieben „Drittstaatsangehörige im Ukraine-Kontext“ wurden zugewiesen. Das sind Personen aus Usbekistan, aus Nepal, Nigeria und Kasachstan, die Aufenthaltserlaubnisse für die Ukraine hatten. Eine Gruppe dieser teils sehr jungen Menschen sei in Netphen Opfer sexueller Nötigung geworden, was sie relativ spät in der Beratung und dann auch der hinzugezogenen Polizei offenbarten. „Es gibt Geflüchtete verschiedenster Nationen, die Polizisten und Polizistinnen nicht als Vertrauenspersonen begreifen.“
Generell war das Jahr durch die Folgen des Kriegs in der Ukraine geprägt. Im Juni 2022 waren 224 Geflüchtete in Netphen angekommen, davon waren allerdings zunächst nur 21 auf städtische Unterkünfte angewiesen. „Es ist bei weitem nicht selbstverständlich, den privaten Wohnraum mit völlig fremden Menschen zu teilen oder bestehenden Wohnraum zu überlassen“, heißt es in dem Bericht – auf Dauer könne das aber auch belastend sein: „Perspektivisch ist davon auszugehen, dass mehr private Wohnverhältnisse enden und Personen gemeinschaftlich untergebracht werden müssen.“
Zahlen
Derzeit hat die Stadt 245 Personen in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, darunter sind 76 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Für weitere 100 Personen konnte eine private Unterkunft gefunden werden.Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben derzeit 182 Personen, darunter 64 Minderjährige. 30 von ihnen kommen aus dem Irak, 21 aus Armenien, 18 aus Russland und 15 aus dem Iran. 26 Personen sind der Stadt in diesem Jahr neu zugewiesen worden, außerdem 15 Personen aus der Ukraine. Ihre Aufnahmeverpflichtung hat die Stadt damit zu 88,7 Prozent erfüllt, 47 Asylsuchende müsste sie noch aufnehmen. Weitere zehn Personen aus der Ukraine sind privat nach Netphen gereist.166 anerkannte Geflüchtete haben eine dreijährige Wohnsitzauflage für Netphen. Sie bekommen, wie auch die Geflüchteten aus der Ukraine, Arbeitslosengeld 2 vom Jobcenter oder Grundsicherung vom Sozialamt. Weil sie oft keine eigenen Wohnungen finden, leben auch sie weiterhin in den städtischen Gemeinschaftsunterkünften. Weil sie ihre Aufnahmeverpflichtung für diese Personengruppe nur zu 50,44 Prozent erfüllt, müsste die Stadt noch weitere 176 anerkannte Asylsuchende oder Geflüchtete mit Schutzstatus aufnehmen.
Netphen habe in den vergangenen Monaten Menschen in der Größenordnung eines weiteren Ortsteils aufgenommen, berichtete Anna Nell im November 2022. „Über 200 Personen wurden in Privatwohnungen aufgenommen. Dabei ist der Wohnungsmarkt ländlich geprägt und geförderter Wohnungsbau rar. Ein gestiegener Wettbewerb um Wohnraum hat mit dem Ukrainekrieg erstmal nichts zu tun, wird aber mit dessen Ausbruch und der Aufnahme der Menschen verschärft und es lässt sich ein damit einhergehender Auszugsstopp aus den Gemeinschaftsunterkünften konstatieren. Die Unterkünfte sind voll und werden voll bleiben.“ Die Versorgungs-Infrastruktur wachse nicht mit. „Die kreisweite gynäkologische, pädiatrische und psychotherapeutische Versorgungsleistung ist angespannt.“
Allein der Informationsbedarf und die Aufnahme der Kriegsflüchtlinge haben dazu geführt, dass andere Aufgaben nicht mehr erfüllt wurden – so wurde die Senioren-Service-Stelle zeitweise geschlossen. „Es war unvermeidbar, dass die Bedarfe der sich in Netphen aufhaltenden Personen im laufenden Asylverfahren oder mit Duldung im Berichtszeitraum deutlich in den Hintergrund treten mussten und ihren Anliegen nicht in dem Maße Rechnung getragen werden konnte, wie es vor Ausbruch des Krieges der Fall war.“
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