Siegen/Hagen. Zwei Mal gelingt es dem Landgericht Siegen nicht, einen sexuell gestörten Mann korrekt zu verurteilen. Wegen Verfahrensfehlern geht es in Runde 3
Es ist der dritte Anlauf, diesen „virtuellen Vergewaltigungsprozess“ zu einem finalen Ergebnis zu bringen. Für den Hagener Verteidiger Michael Aßhauer wäre dieses erneute Verfahren völlig unnötig gewesen, „wenn sich die Vorsitzende Richterin in Siegen nicht diese Ungeheuerlichkeit mit der unwahren richterlichen Stellungnahme geleistet hätte“. Deshalb habe er – erneut – den Bundesgerichtshof (BGH) anrufen müssen, sagt der Verteidiger, „weil hier offensichtlich ein Fehler vertuscht werden sollte.“ Die BGH-Richter kippten tatsächlich die Siegener Entscheidung, seit Dienstag, 23. Mai, muss das Landgericht Hagen nun erneut verhandeln.
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Die eigentlichen Vorfälle, die bereits rechtskräftig festgestellt sind und vom Angeklagten auch nicht bestritten werden, waren zwischen Oktober und Dezember 2018 passiert. Der Burbacher, zum Tatzeitpunkt 46 Jahre alt, war im Internet unterwegs und lernte in einem Chatroom eine 14-Jährige kennen. Ihr gegenüber nannte er sich „Marius“, und gab er sich als 18-jähriger Auszubildender aus, der in seiner Freizeit auch Schlagzeuger einer Band sei. Innerhalb weniger Wochen hatte sich die Schülerin aus Ostdeutschland in ihr Gegenüber, das sie nur aus zahlreichen Chats kannte, „verliebt“. Der Angeklagte nutze das aus und wünschte sich erotische Bilder von ihr.
Bizarrer Fall um „virtuelle Vergewaltigung“, Erpressung, Sex und Angst
Der arglose Teenager erfüllte das und verschickte mehrere Nacktfotos von sich. Immer in der Vorstellung und im naiven Glauben, dass vor dem Computer ein 18-jähriger Marius säße. Sie ahnte nicht, dass sie in Wirklichkeit mit einem gerissenen und gefährlichen Sexualstraftäter chattete, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden war. Dort hatte er wegen Vergewaltigung fünf Jahre und neun Monate Haft verbüßen müssen. Mit den erschlichenen Nacktfotos wurde die Schülerin nunmehr erpresst: Die verfänglichen Bilder würden an ihre Mutter oder an dritte Personen verschickt, wenn sie weiteren Forderungen nicht nachkäme. Auch von einer angeblichen kriminellen Organisation wurde die 14-Jährige bedroht.
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Der Angeklagte erwirkte dadurch, dass sich die Schülerin aus Angst dem Druck beugte und in verschiedenen Videotelefonaten weitere und auch gefährliche sexuelle Handlungen an sich vornahm. So musste sich sich das Opfer immer wieder Gegenstände einführen, unter ersichtlichen Schmerzen und erheblicher Verletzungsgefahr.
Zweiter Versuch vorm Landgericht Siegen geht erneut baden
Im ersten Verfahren hatte das Landgericht Siegen den heute 48-jährigen Burbacher zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das war im Juli 2019. Knapp ein Jahr später hob der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil auf und verwies den Fall zur Verhandlung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Siegen zurück: Die Kammer habe sich nur auf Indizien gestützt, als sie beim Angeklagten einen Hang zu erheblichen Straftaten feststellte – das sei nicht rechtsfehlerfrei begründet worden, heißt es im Urteil vom 10. März 2020, vielmehr hätte es bewiesen werden müssen. Dem Sachverständigen war das Siegener Landgericht nicht gefolgt.
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Der Fall ging zurück nach Siegen, Anfang Januar 2021 fiel dann die erneute Entscheidung. Sie lautete: fünf Jahre Haft und Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Doch auch das zweite Urteil des Landgerichts Siegen ging vor der höchsten deutschen Strafrechtinstanz wiederum „baden“. Die BGH-Richter stellten später fest, dass die Vorsitzende Richterin es beim „zweiten Versuch“ unterlassen hatte, dem Angeklagten das letzte Wort zu erteilen. Laut Hauptverhandlungsprotokoll hatten am 21. Dezember 2020 lediglich Staatsanwalt, Nebenkläger und Verteidiger plädiert. Vom letzten Wort des Angeklagten stand darin jedoch nichts.
Bundesgerichtshof hält Siegener Richterin vor: Protokoll eigenmächtig ergänzt
Am 4. Januar 2021 trat demnach die Kammer in den Saal. Anstatt wie erwartet dem Angeklagten nunmehr das letzte Wort zu erteilen, verkündete die Richterin überraschend das Urteil. Auf die schriftliche Rüge von Verteidiger Michael Aßhauer vermerkte die Vorsitzende am 12. April in der Akte, dass beide Beisitzer sich auf Nachfrage daran erinnern würden, dass dem Angeklagten das letzte Wort erteilt worden sei und man deshalb beabsichtige, das Protokoll entsprechend zu berichtigen.
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Der Verteidiger widersprach ausdrücklich und regte an, die Protokollführerin zu befragen. Daraufhin erstellte die Vorsitzende einen weiteren Vermerk, wonach sie sich, sowie eine Beisitzerin und eine Zeugin erinnern könnten, dass dem Angeklagten das letzte Wort erteilt worden sei. Der weitere Berufsrichter, die beiden Schöffen und der Staatsanwalt hingegen hätten „keine Erinnerung mehr“ an den Vorgang. Mit Beschluss vom 21. Mai 2021 hatte die Vorsitzende Richterin, was ihr der Bundesgerichtshof später vorhalten sollte, dann das Protokoll noch eigenmächtig mit den Worten ergänzt: „Der Angeklagte hatte das letzte Wort. Er erklärte nichts.“
Verteidiger: „Völlig unnötig, wenn in Siegen alles korrekt gelaufen wäre“
Diese nachträgliche Ergänzung, so die BGH-Strafsenatsrichter, entsprächen aber nicht den „höchstrichterlichen Grundsätzen einer nachträglichen Protokollberichtigung“, weil die Protokollführerin keine dienstliche Erklärung dazu abgegeben hatte. Mit Urteil vom 12. Mai 2022 kam der BGH zum Ergebnis: „Aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls steht fest, dass dem Angeklagten das letzte Wort vor der Urteilsverkündung nicht gewährt worden ist. Dabei ist das Protokoll in seiner ursprünglichen Fassung zugrunde zu legen.“ Auch der zweite Anlauf, den Burbacher zu verurteilen, scheiterte.
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Ein drittes Mal geht der Fall nicht zurück nach Siegen: Nun ist das Landgericht Hagen am Zug, die „virtuelle Vergewaltigung“ erneut zu verhandeln. „Völlig unnötig, wenn in Siegen alles korrekt gelaufen wäre“, kritisiert Verteidiger Aßhauer. „Denn mit der Höhe von fünf Jahren und der Unterbringung in einer therapeutischen Einrichtung ist mein Mandant durchaus einverstanden.“ Am 31. Mai wird der Prozess fortgesetzt. Dann könnte auch das dritte Urteil fallen. Es soll die letzte und endgültige Entscheidung in dieser Sache werden.