Siegen. Unter Fetalem Alkoholsyndrom leiden Betroffene lebenslang. Dabei ließe es sich leicht vermeiden: Mit Verzicht auf Alkohol in der Schwangerschaft.

Die Schädigungen beeinträchtigen Menschen ihr Leben lang. Und sie wirken tiefgreifend. Dabei ließen sie sich in aller Regel ganz einfach vermeiden: Durch den Verzicht auf Alkohol während der Schwangerschaft. „Es ist traurig“, sagt Markus Pingel, Chefarzt und Ärztlicher Direktor an der DRK-Kinderklinik in Siegen. Immer noch ist vielen Frauen (und ihren Partnern) die enorme Gefahr des so genannten Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) nicht bewusst. Im September mit dem „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ soll dafür öffentlich und gezielt sensibilisiert werden.

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Alkohol ist ein Zellgift. Er ist in jeder Phase der Schwangerschaft problematisch“, betont der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin. Besonders stark sind die Effekte allerdings in den frühen Phasen, weil Alkohol toxisch auf schnell wachsendes Gewebe wirkt – und „da zählt das Gehirn an erster Stelle dazu“. Die Schäden, die dabei entstehen, sind nicht reversibel. Und sie können schon nach geringen Mengen Alkohol auftreten.

Siegen-Wittgenstein: Fünf bis sechs Neugeborene jährlich mit Fetalem Alkoholsyndrom

Die Zahlen, wie viele Kinder betroffen sind, variieren. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) schätzt, dass in Deutschland jährlich mehr als 10.000 Neugeborene mit „Fetalen Alkoholspektrum-Störungen“ und rund 3000 mit FAS-Vollbild zur Welt kommen – letztere sind auch als Erwachsene noch auf Hilfe angewiesen, um ihren Alltag zu bewältigen. Für Siegen-Wittgenstein geht Markus Pingel von fünf bis sechs Kindern pro Jahr aus, die mit FAS geboren werden. Bei etwa 2800 Geburten im Schnitt heißt das, dass es die häufigste Variante einer Behinderung ist und häufiger vorkommt als beispielsweise Trisomie 21 (Down-Syndrom). Mit der Besonderheit: Es ließe sich verhindern.

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Unterschieden wird je nach Ausprägung zwischen Fetalem Alkoholsyndrom (FAS) und Partiellem Fetalem Alkoholsyndrom (PFAS). „Partiell“ – also „teilweise“ sei dabei aber ein irreführender Begriff, wie Markus Pingel sagt. Zwar kommen bei FAS oft offensichtliche Fehlbildungen wie ein ungewöhnlich kleiner Kopf oder kleine Augen und eine schmale Oberlippe hinzu, „eine typische Gesichtsmorphologie“, wie der Fachmann sagt. Auch das Herz kann betroffen sein. Die Übergänge zwischen beiden Formen sind aber fließend, und die neurologischen und das Verhalten betreffenden Folgen wiegen in jedem Fall schwer, weil das Gehirn nachhaltig geschädigt ist.

Siegener Experte: Folgen von Fetalem Alkoholsyndrom für alle Lebensbereiche

„Die Kinder haben große Schwierigkeiten mit dem Kurz- und Mittelzeitgedächtnis“, erläutert der Chefarzt. Der Intelligenzquotient liege bei Menschen mit FAS im Schnitt bei 75; der allgemeine Durchschnitt liegt bei 100. Die Jungen und Mädchen hätten oft große Schwierigkeiten mit dem Wissenstransfer. Sie könnten das, was sie lernen, nicht auf anderen Bereiche übertragen, weder im schulischen Bereich noch im sonstigen Leben. Im Alltag reagierten sie deshalb sehr schnell irritiert auf ungewohnte Situationen, weshalb sie eine strikte Routine bräuchten, um sich zurechtzufinden. Bricht diese auf, wird es schwierig. „Bei einer Urlaubsreise kann alles wieder vergessen sein“, sagt Markus Pingel. Hinzukommen oft Verhaltensauffälligkeiten: etwa geringe Impulskontrolle oder extreme Antriebslosigkeit.

Weitere Informationen

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hält auf ihrer Homepage bzga.de viele Informationen zum Thema „Alkohol in der Schwangerschaft“ und FAS bereit.

Dort gibt es auch die Broschüre „Lecker & gesund hoch zwei – Alkoholfreie Drinks nicht nur für Schwangere“ mit teilweise sehr originellen Rezepten für unbedenklichen Getränkegenuss.

Therapien gibt es nicht. Sozialpädiatrische Behandlungen wie Ergotherapie oder Heilpädagogik können zwar helfen – doch die zugrundeliegenden Schäden sind nicht reversibel. „Hirnorganische Störungen sind schlecht zu beeinflussen“, sagt der Experte. Die einzige Lösung sei die vollkommene Abstinenz ab dem Moment, wo die Schwangerschaft bekannt ist; noch besser aber ab dem Versuch, schwanger zu werden.

Alkohol in der Schwangerschaft: Die Devise ist völlige Abstinenz in allen Phasen

Schwieriger sei die Sache, wenn bei der Mutter eine Suchterkrankung vorläge. Die Schwangerschaft könne eine Motivation sein, diese anzugehen – doch eine Sucht zu überwinden ist eine komplexe Herausforderung. Bei Frauen ohne diese zusätzliche Komplikation sei das Problem mitunter eher eine „Mir-wird-schon-nichts-passieren-Einstellung“, wie Markus Pingel erklärt. Ein Gedanke in der Art „Einmal noch feiern wird ja nicht so schlimm sein“ oder das Festhalten am abendlichen Glas Wein stehen jedoch zum bestehenden Risiko in keinem Verhältnis.

Markus Pingel, Chefarzt und Ärztlicher Direktor an der DRK-Kinderklinik Siegen und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin
Markus Pingel, Chefarzt und Ärztlicher Direktor an der DRK-Kinderklinik Siegen und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin © DRK-Kinderklinik Siegen | Stefan Wendt

„Es ist tückisch“, unterstreicht der Mediziner, „weil es keinen beschriebenen Grenzwert gibt, welche Alkoholmenge noch funktioniert. Und es ist auch nicht bei allen Menschen gleich.“ Nicht jede Frau, die während der Schwangerschaft etwas trinkt, bringt ein Kind mit FAS zur Welt. Welche Menge schädigend wirkt, „hängt wohl auch von genetischen Faktoren ab“. Aber da sich vorab nicht messen oder anderweitig prognostizieren lässt, ab wann es kritisch wird, sollte völlige Abstinenz gelten. Es geht nämlich nicht nur um den Körper der Mutter – sondern auch darum, wie das ungeborene Kind individuell auf Alkohol reagiert, „und darüber lässt sich gar nichts sagen“.

Markus Pingel rät werdenden Müttern dringend dazu, auf jeglichen Alkohol zu verzichten. „Der Partner könnte aus Solidarität mitmachen“, empfiehlt er. Dann fiele es vielleicht noch einmal leichter.

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